Im Gefolge des russischen Überfalls auf die Ukraine drohen neue kriegerische Annexionskonflikte

Die Nachahmer

Im Windschatten der russischen Aggression gegen die Ukraine drohen weitere kriegerische Annexionskonflikte in der Peripherie und Semiperipherie des kriselnden Weltsystems.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan gibt sich kaum noch Mühe, seine imperialen Ambitionen im Südkaukasus zu kaschieren. Nach der Eroberung und ethnischen Säuberung der alten armenischen Siedlungsregion Bergkarabach durch das verbündete Aserbaidschan ist es nun der sogenannte Sangesur-Korridor in Südarmenien, auf den es die Regierungen in Ankara und Baku abgesehen haben. Die Sowjetunion habe diese an den Iran grenzende Region, die eine Landbrücke zwischen der Türkei und Aserbaidschan versperrt, 1920 Armenien zugeschlagen; dieses historisch Unrecht müsse revidiert werden. Die Errichtung eines Korridors auf südarmenischem Staatsgebiet sei eine »strategische Angelegenheit«, sagte der türkische Präsident bei einem Treffen mit seinem aserbaidschanischen Amtskollegen Ilham Alijew in der Exklave Nachitschewan Ende September.

Die Türkei und Aserbaidschan vollführten somit binnen weniger Wochen eine Kehrtwende von geradezu Orwell’scher Qualität: Die vollständige Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach, von türkischen Staatsmedien als »Antiterroroperation« bezeichnet, hatten zuvor beide Regierungen völkerrechtlich legitimiert mit der einsamen Entscheidung des damaligen ­sowjetischen Volkskommissars für Nationalitätenfragen, Josef Stalin, 1921 dieses alte armenische Siedlungsgebiet der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik zuzuschlagen.

Während im Fall Bergkarabachs die sowjetische Grenzziehung also ganz selbstverständlich zur ideologischen Grundlage der ethnischen Säuberung dieser Region wurde (im ölaffinen Westen wurde diese Argumentation des Öllieferanten Alijew bereitwillig geteilt), argumentieren Erdoğan und Alijew beim Sangesur-Korridor, der Gegenstand von Verhandlungen mit Armenien werden soll, genau umgekehrt – sowjetisches »Unrecht« müsse revidiert werden.

Die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach kann als ein Nachahmerkonflikt der russischen Aggression bezeichnet werden, bei dem Aserbaidschan und die Türkei im Windschatten des Ukraine-Kriegs ihre regionalen Ziele mittels militärischer Gewalt und ethnischer Säuberung zu erreichen trachten.

Dieses Gerede erinnert nicht zufällig an die Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin zu Beginn des Überfalls auf die Ukraine, Lenin und die Bolschewiki hätten Russland schweres Unrecht zugefügt, da die Sowjets die Ukraine erst aus historischen Territorien Russlands geformt hätten. Die Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach kann als ein Nachahmerkonflikt der russischen Aggression bezeichnet werden, bei dem Aserbaidschan und die Türkei im Windschatten des Ukraine-Kriegs ihre regionalen Ziele mittels militärischer Gewalt und ethnischer Säuberung zu erreichen trachten.

Das Kalkül ist einfach: Der ukrainische Abnutzungskrieg erschöpft die militärischen Ressourcen in Ost und West, was das Risiko einer militärischen Reaktion der Großmächte auf militärische Abenteuer in einer als Hinterhof betrachteten Region wie dem Südkaukasus reduziert – zumal die Abhängigkeit Europas von aserbaidschanischen Energieträgern selbst das Risiko von Sanktionen minimiert. Der Terrorkrieg der Hamas gegen Israel sowie die drohende Auseinandersetzung zwischen den USA und dem Iran haben diese­ ­Gefahr einer militärischen Überdehnung der westlichen Staaten noch verstärkt.

Folglich wird längst nicht nur in Aserbaidschan ausgelotet, wie weit man im Fahrwasser der russischen Aggression selbst militärisch vorstoßen kann, ohne mit ernsthaften Konsequenzen seitens der ausgelasteten Großmächte rechnen zu müssen. Auch Venezuela will ein altes »Unrecht« notfalls mit militärischen Mitteln revidieren, das in diesem Fall bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht: Die 1840 von der britischen Kolonialmacht zwischen Venezuela und der damaligen Kolonie British Guiana gezogene Grenze hat Venezuela nie akzeptiert, das Ansprüche auf die westguyanische Region Essequibo erhebt, die bei einem Schiedsspruch 1899 weitgehend dem damaligen Empire zugeschlagen wurde.

Der Konflikt flammte kurz in den Sechzigern im Zuge der Dekolonisierung Guyanas auf, um hiernach weitgehend eingefroren zu werden – bis 2015, als Guyana dem US-Ölkonzern Exxon Konzessionen zur Förderung der riesigen Ölvorkommen erteilte, die vor der Küste der umstrittenen Dschungelregion, in der nur 125.000 Menschen leben, gefunden worden waren.

Guyana hat, was Armenien fehlt: strategisch bedeutsame Rohstoffvorkommen, weshalb auch die USA – im Gegensatz zur ehemaligen armenischen Schutzmacht Russland – bereits eindeutige Warnungen an die venezolanische Regierung übermittelten.

Vor dem Hintergrund der schweren Wirtschaftskrise, eskalierender Inflation und schlechter Umfragewerte ließ der venezolanische Präsident Nicolás Maduro Anfang Dezember ein Referendum über die Annexion der umstrittenen Region abhalten, die zwei Drittel der Fläche Guyanas umfasst. Nach offiziellen Angaben stimmten mehr als 90 Prozent der Referendumsteilnehmer – 51 Prozent aller Wahlberechtigten – für die Annexion. Seitdem will die Regierung venezolanische Landkarten nur noch mit Essequibo als neuer Provinz drucken lassen.

An der Grenze zum gerade mal 800.000 Einwohner zählenden Guyana, das einen rasanten Ölboom erlebt, marschierten bereits venezolanische und brasilianische Truppen auf. Brasiliens Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva warnte Maduro am 9. Dezember eindringlich vor einer Eskalation im Grenzkonflikt. Guyana hat, was Armenien fehlt: strategisch bedeutsame Rohstoffvorkommen, weshalb auch die USA – im Gegensatz zur ehemaligen armenischen Schutzmacht Russland – bereits eindeutige Warnungen an die venezolanische Regierung übermittelten und gemeinsame Manöver mit den Streitkräften Guyanas ankündigten.

Auf eine rasche Intervention einer Großmacht kann hingegen das international isolierte Regime in Eritrea – oftmals auch als das Nordkorea Afrikas umschrieben – kaum hoffen. Mit dem Hafen im süderitreischen Assab verfügt das ostafrikanische Land über einen Zugang zu den globalen Seehandelsrouten, der dem Binnenland Äthiopien mit seinen mehr als 120 Millionen Einwohnern seit der Unabhängigkeit Eritreas 1993 verwehrt ist. Nach einem Grenzkrieg zwischen beiden Staaten von 1998 bis 2000 kann Äthiopien die Häfen Eritreas, über die zuvor ein Großteil des Handels abgewickelt wurde, nicht mehr nutzen, weshalb das Binnenland seinen Außenhandel zu rund 90 Prozent über den Hafen von Djibouti abwickeln muss – gegen milliardenschwere Gebühren.

Beide Staaten haben erst 2018 den Kriegszustand beendet und eine Normalisierung eingeleitet. Während des blutigen, von schweren Kriegsverbrechen gekennzeichneten Bürgerkriegs in der nordäthiopischen Provinz Tigray kooperierten sogar die Streitkräfte Äthiopiens und Eritreas bei der erfolgreichen Niederschlagung des Aufstands der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) zwischen 2020 und November 2022.

Mit dem »Fokus der Welt auf Gaza« könnte auch die äthi­opische Regierung versucht sein, in Eritrea Fakten zu schaffen.

Doch seit Oktober signalisiert der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed immer deutlicher die Bereitschaft zum Krieg, um einen Zugang zum Roten Meer zu erkämpfen, während äthiopische Truppen an der Grenze zu Eritrea zusammengezogen werden. Ahmed bezeichnete den Zugang zum Meer als eine Überlebensfrage Äthiopiens. Als primäres Ziel eines etwaigen äthiopischen Angriffs gilt der Hafen von Assab, Ahmed soll aber auch die vollständige Eroberung Eritreas angedroht haben. Mit dem »Fokus der Welt auf Gaza« könnte die äthi­opische Regierung versucht sein, Fakten zu schaffen, kommentierte das US-amerikanische Fachblatt Foreign Policy.

Ein Krieg zur schnellen Erlangung eines Seehafens – eine Marine haben die äthiopischen Streitkräfte bereits gegründet – könnte sich aber auch in ein regionales Desaster wandeln, da Äthiopien ein Staat mit einer Vielzahl regionaler Konflikte ist, in dem bereits mehrere Bürgerkriege toben, zum Beispiel in der nordwestlichen Region Amhara und gegen Milizen der Bevölkerungsgruppe der Oromo. Äthiopische Stellen haben wiederholt Eritrea beschuldigt, die Revolte in Amhara zu unterstützen. Die beste Chance für das eritreische Regime, eine Konfrontation mit Äthiopien zu überstehen, bestünde darin, diese Bürgerkriege nach Kräften zu schüren. Ein äthiopischer Eroberungskrieg gegen Eritrea, dessen Regime einen Großteil seiner Bevölkerung in einen neofeudalen, zeitlich unbefristeten Militärdienst zwingt, könnte sich somit in einen Entstaatlichungskrieg wandeln, der die ganze ostafrikanische Region destabilisieren würde; bereits der Staatszerfall des benachbarten Somalia wurde insbesondere durch eine gescheiterte Invasion Äthiopiens 1977–1978 beschleunigt.

Diese tobenden oder drohenden Nachahmerkonflikte in der Peripherie und Semiperipherie des krisengeplagten Weltsystems bieten einen Ausblick auf die Realität der sich abzeichnenden »multipolaren Weltordnung«, von der gerade Russlands Präsident Putin so gerne schwärmt. Es ist faktisch eine multipolare Weltunordnung in der manifesten Weltkrise des Kapitals, in der weder die absteigenden USA noch China die Funktion eines Hegemons und imperialen Weltpolizisten einnehmen können – und in der folglich immer mehr Staaten versucht sein dürften, die krisenbedingt zunehmenden inneren Widersprüche durch äußere Aggression zu kompensieren. Bis zum Staatszerfall.