Percival Everetts Roman »James« ist unbedingt lesenswert

Subversive Unterhaltung

In Mark Twains »Die Abenteuer des Huckleberry Finn« ist der Sklave Jim nur der Sidekick der Titelfigur. Percival Everett macht ihn in seinem Roman »James« zum Helden.

»Die Weißen erwarten, dass wir auf eine bestimmte Weise klingen«, schärft der Sklave James seinen Kindern ein, »und es kann nur nützlich sein, sie nicht zu enttäuschen.« Denn nichts erbose die weiße Herrschaft mehr als ein kluger Sklave, der sich ausdrücken kann. Um keinen Ärger zu bekommen, mimt James daher den Dummen, lässt sich bei seinem Sklavennamen »Jim« nennen und verwendet in Gegenwart der Weißen den Slang der Sklaven.

James ist die aus Mark Twains ­Roman »Die Abenteuer des Huckleberry Finn« (1884) bekannte Figur des Sklaven Jim, der sich mit dem weißen Jungen Huckleberry »Huck« Finn auf eine gefährliche Flucht begibt, als er nach New Orleans verkauft werden soll. Der Roman »James« von Percival Everett erzählt nun seine Geschichte; aus der Nebenfigur macht der Autor die titelgebende Hauptfigur. Everett, US-amerikanischer Schriftsteller und Professor für Englisch an der University of Southern California, gelingt dabei sowohl eine Neudeutung des Stoffs als auch eine Hommage an einen Schlüsselroman der modernen Literaturgeschichte. Seine Bearbeitung ruft einmal mehr das damals unerhört Neue der Vorlage in Erinnerung.

Unterhält sich James mit seiner Frau, seinen Kindern und seinen Leidensgenossen, spricht er klar und verständlich; im Kontakt mit Weißen spielt er den Einfältigen.

»The Adventures of Huckleberry Finn«, so der Originaltitel, wurde vor allem in Deutschland lange Zeit als harmloses Jugendbuch missverstanden. Aus deutschen Ausgaben wurden zahlreiche sozialkritische Passagen herausgekürzt, weshalb das Buch vor allem wegen der geschilderten Lausbubenstreiche bekannt wurde. Sein radikaler Ansatz geriet in Vergessenheit. Twain schrieb zu einer Zeit über die einfachen Leute, als sich die an britischen Manierismen orientierte US-amerikanische Literatur den Privilegierten zuwandte. Statt Adelsintrigen in englischen Herrenhäusern zu spinnen oder Spaziergänge durch das London des Viktorianismus zu schildern, schickte Twain zwei Tramps auf einem Floß den Mississippi hinunter.

Für Hemingway der Begründer der modernen US-Literatur. Mark Twain, 1907

Für Hemingway der Begründer der modernen US-Literatur. Mark Twain, 1907

Bild:
Wikimedia Commons

Die Reise beginnt irgendwann in den Jahren nach 1835, als das erste Dampfschiff den Strom befuhr. Im fiktiven Städtchen St. Petersburg, das Twains Kindheitsort Hannibal in Missouri nachempfunden ist, erfährt der Sklave Jim, dass er Frau und Kinder verlassen soll, weil seine Besitzerin Miss Watson ihn nach New Orleans verkaufen will, einem Ort, der für Sklaven die Hölle auf ­Erden bedeutet. Jim flüchtet unter Lebensgefahr, um sich in den Bundesstaat Ohio, der die Sklaverei bereits verboten hatte, durchzuschlagen, in der Hoffnung, seine Familie freikaufen und nachholen zu können. An seiner Seite der Junge Huck, das Mündel von Miss Watsons Schwester, der im Laufe der gemeinsamen Reise eine Wandlung durchmacht und erkennt, dass die Hautfarbe eines Menschen keine Rolle spielt.

Twains ätzende Kritik an der ländlichen Gesellschaft

Der Ich-Erzähler bei Twain ist der Junge. Seine Sprache ist ein regionentypischer subkultureller Dialekt. Der Autor simuliert diese Redeweise, ohne die Figur als dumm darzustellen. Im Gegenteil zeichnen sich Huck wie auch Jim durch charakterliche Stärke aus. Der weiße Junge wird Verbündeter eines Schwarzen und riskiert sein Leben, indem er dem Sklaven Fluchthilfe leistet. Umgekehrt versucht Jim, dem Jungen etwas über das Leben beizubringen.

Twains ätzende Kritik an der ländlichen Gesellschaft erregte die Gemüter. Autoren wie T. S. Eliot und Ernest Hemingway erkannten hingegen den literarischen Rang des Romans. Hemingway meinte, dass »die gesamte moderne amerikanische ­Literatur« von diesem Buch abstamme. »Vorher gab’s nichts. Danach hat es nichts gleich Gutes gegeben.«

Die Handlung der Vorlage behält Everett weitgehend bei. Alle wichtigen Stationen wie die Entdeckung des Hausboots, Hucks Tarnung als Mädchen und die Begegnung mit dem betrügerischen Pärchen Herzog und König kommen auch bei ihm vor. Wie Twain beschreibt er die Reise der beiden als Chronik einer Befreiung von den Zwängen der Gesellschaft. Nur beschreibt er die Erlebnisse nicht mehr aus Sicht des weißen Jungen, sondern aus der des Sklaven; außerdem erweitert er die Geschichte um einige neue Episoden. In Fieberträumen führt James leidenschaftliche Diskussionen mit Voltaire, der die Sklaverei ablehnte und doch an ihr verdiente.

James kann lesen und schreiben, noch etwas Unerhörtes. Als er ein unbeschriebenes Blatt Papier findet und zum Stift greift, beginnt ein Prozess der Selbstbezeugung.

So wie Twain dem vermeintlich naiven, verwilderten Kind eine Stimme gab, so lässt Everett nun den Sklaven zu Wort kommen. Unterhält sich James mit seiner Frau, seinen Kindern und seinen Leidensgenossen, spricht er klar und verständlich; im Kontakt mit Weißen spielt er den Einfältigen. Das klingt so: »Ich denk ma, s gibt viele Fußspuren im Schnee. Da hinterlassen die Leute nämmich immer welche.« Oder: »Kannch die da behaltn?« Und: »Chwar traurig, wie sie gestorm is.« Das Kauderwelsch des Sklaven beruht aber nicht auf Unbildung und Unvermögen, sondern ist im Roman von Everett ein Akt der Subversion, die Camouflage eines Entrechteten, der sich nicht brechen lässt. Auch in der hervorragenden deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl merkt man dem Protagonisten an, welche inneren Widerstände es ihn kostet, vor den Weißen den Unterlegenen zu geben.

Gewalt des Rassismus nicht abgemildert

James kann lesen und schreiben, noch etwas Unerhörtes. Als er ein unbeschriebenes Blatt Papier findet und zum Stift greift, beginnt ein Prozess der Selbstbezeugung: »Ich heiße James. Ich wünschte, ich könnte mein Leben mit ebenso viel Geschichts­bewusstsein wie Fleiß erzählen. Ich wurde bei meiner Geburt verkauft und dann erneut verkauft. Die Mutter meiner Mutter stammte von irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent, wie man mir erzählt hat oder wie ich vielleicht einfach angenommen habe.«

Romantisiert wird die Unmenschlichkeit des Sklavensystem damit nicht, vielmehr zeigt der Roman, dass James großes Glück hat, was eher die Ausnahme ist: Der Sklave, der ihm den Stift besorgt hat, wird wegen Diebstahls ausgepeitscht. Eine minderjährige Schwarze, die James befreien will, findet den Tod.

Percival Everett nennt Mark Twain als einen seiner Helden

Percival Everett nennt Mark Twain als einen seiner Helden

Bild:
Michael Avedon

Die Gewalt des Rassismus wird nicht abgemildert, und doch liest sich das Buch wie schon die Vorlage auch als unterhaltsame Abenteuererzählung. Immer wieder dringt ein subversiver Witz durch, etwa wenn sich James in einer Minstrel-Show wiederfindet, wo er einen Weißen mimen muss, der einen Schwarzen spielt.

Dass Everett teilweise diskriminierende Sprache, etwa Varianten des N-Worts, verwendet, um den Rassismus der damaligen Gesellschaft abzubilden, wird ihm ähnliche Vorwürfe einbringen, wie man sie Twain heute macht. Everetts Perspektivwechsel befreit aber nicht nur die Figur des Sklaven, sondern ermöglicht ihm erst dieses leichte, unterhaltsame ­Schreiben über dieses finstere Kapitel der US-Geschichte.
 

Buchcover James

Percival Everett: James. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2024, 336 Seiten, 26 Euro