Ein TikTok-Verbot wird in den USA diskutiert, wäre aber wohl schwer umzusetzen

Kalter Entzug

Der US-Kongress berät über einen Gesetzentwurf, der auf ein Verbot der Videoplattform TikTok hinauslaufen könnte. Politiker sehen in dem chinesischen Unternehmen, das TikTok betreibt, eine Gefahr für die nationale Sicherheit. Doch weder ein Verbot noch eine Abspaltung vom chinesischen Mutterkonzern scheinen einfach zu realisieren.

Das Videoportal TikTok bietet weitaus mehr als nur ulkige Tanzvideos mit Karaoke-Einlagen. Unter anderem auch Desinformationen, Propaganda und Verschwörungstheorien. Deswegen verabschiedete am 13. März das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten einen Gesetzesentwurf, mit dem TikTok von seinem chinesischen Mutterkonzern Bytedance abgespalten werden soll. Sollte auch der Senat dem Entwurf zustimmen, will US-Präsident Joe Biden ihn unterzeichnen und damit rechtskräftig machen. Insgesamt stimmten 352 von 435 Abgeordneten dafür, ein seltener Moment überparteilicher Einigkeit. Für Bytedance, die Mutterfirma von TikTok, sind das schlechte Nachrichten – träte das Gesetz in Kraft, müsste sie sich innerhalb von sechs Monaten von TikTok trennen, oder die App würde in den USA verboten.

Aber auch die Regierung Biden würde das vor ein Problem stellen. Denn angeblich nutzen etwa der Hälfte aller US-Amerikanerinnen und -Amerikaner die App – mehr als 150 Millionen Menschen. Die Zahl stammt von TikTok und lässt sich nicht unabhängig überprüfen, aber es steht außer Frage, dass TikTok ist längst zu einem wesentlichen Bestandteil der digitalen Wirtschaft der USA geworden ist. Millionen von Menschen sind hier als Influencer unterwegs, geben Mode- und Schminktipps, empfehlen Musik, teilen Kochrezepte.

Die Washington Post berichtete, eine von TikTok selbst finanzierte Untersuchung der Beraterfirma Oxford Economics habe ergeben, dass das Unternehmen im vergangenen Jahr 24,2 Milliarden US-Dollar zum amerikanischen Bruttoinlandsprodukt beitrug. 224.000 Arbeitsplätze stehen demnach mit TikTok in Verbindung. Auch hier mangelt es an unabhängigen Daten. Das ist symptomatisch für die gesamte Debatte.

»TikTok liest deine Seele wie eine Art göttliches digitales Orakel und zeigt Seiten von dir auf, die dir selbst bisher unbekannt waren.« Jess Joho, TikTok-Nutzerin

Für beide großen Parteien in den USA, Republikaner und Demokraten, ist China – und damit auch TikTok – in den vergangenen Jahren zu einem zuverlässigen Feindbild geworden. Aber wie gefährlich ist TikTok wirklich? Für viele der jugendlichen Nutzerinnen und Nutzer scheint die Plattform ein Gesundheitsrisiko darzustellen, was sich unter anderem aus einer Studie des Kinderkrankenhauses des Baylor College of Medicine in Texas erschließt. Außer Depressionen und Nervosität kann es wohl bei übermäßigem TikTok-Konsum in seltenen Fällen zu unfreiwilligen Zuckungen kommen, vor allem im Gesicht: funktionelle neurologische Störung (FNS) nennt man das neuerdings. Die Fans lieben TikTok ungeachtet dessen.

Der Konzern hat in den Tagen vor der Abstimmung erstaunlich effektiv Proteste organisiert, bei denen sich zuletzt auch zahllose »content creators« vor dem US-Kapitol zu einer Demonstration einfanden. Die Telefonzentralen der Abgeordneten waren aufgrund der Menge an Anrufen offenbar über Tage hinweg blockiert gewesen. Ein hochrangiger Politiker der Demokraten sah darin seine Bedenken bestätigt. »Eine intelligente Organisationstaktik« nannte er die TikTok-Proteste in der Washington Post und fügte hinzu: »Sie hebt aber auch das eigentliche Problem hervor, nämlich dass ein ausländischer Technologiekonzern enormen Einfluss in den Vereinigten Staaten hat.«

Wert von TikTok auf 66 Milliarden US-Dollar geschätzt

Dennoch könnte sich ein Verkauf von TikTok als schwieriger herausstellen als gedacht. Der Wert der Marke wird nach Angaben der Branchenwebsite Techreport für 2023 auf 66 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das ist nicht gerade wenig, auch wenn der Preis bei einem Zwangsverkauf wohl sinken würde. Wer käme als Käufer in Frage? Geäußert hat sich hierzu unter anderem Donald Trump, der auf seiner eigenen Plattform, Truth Social, gegen TikTok stänkert. Er scheint in erster Linie den Verkauf an einen seiner zahllosen Erzfeinde verhindern zu wollen, nämlich Meta, den Mutterkonzern von Facebook, und Instagram.

Aber auch innerhalb der Regierung Biden könnte sich Widerstand gegen einen Verkauf TikToks formieren. Lina Khan, die von Biden nominierte Vorsitzende der Federal Trade Commission (FTC), ist bekannt dafür, das Kartellrecht immer wieder gegen Internetgroßkonzerne wie Amazon einzusetzen. Ob die FTC eine Übernahme von TikTok durch beispielsweise Meta, Alphabet oder X einfach so durchwinken würde, ist fraglich.

Vielleicht hätte Apple bessere Chancen, da der Konzern im Bereich der sozialen Medien kaum präsent ist. Doch um ein wesentliches Problem kommt man nicht umhin: Was TikTok so beliebt macht, ist nicht etwa die ansprechend gestaltete Benutzeroberfläche, sondern vor allem der firmeneigene Algorithmus, der die Inhalte sortiert und dafür sorgt, dass das Portal so süchtig macht.

Die TikTok-Nutzerin Jess Joho schrieb auf der britisch-amerikanischen Nachrichten-Website Mashable, dass der Algorithmus schon gewusst habe, dass sie bisexuell ist, als sie selbst es noch nicht ahnte: »TikTok liest deine Seele wie eine Art göttliches digitales Orakel und zeigt Seiten von dir auf, die dir selbst bisher unbekannt waren.« Es ist eine Form der Markenbindung, die an Religion erinnert.

TikTok ohne Geheimzutat nur noch ein schickes Chassis ohne Motor

Den heißbegehrten Algorithmus wird Bytedance im Falle einer Übernahme durch ein US-amerikanisches Unternehmen wohl nicht preisgeben; es gilt als sicher, dass die chinesische Regierung eine Exportgenehmigung verweigern würde. Wer also TikTok kauft, muss wahrscheinlich etwas Eigenes entwickeln. Doch ohne die Geheimzutat ist TikTok im Grunde nur noch ein schickes Chassis ohne Motor, ein weiteres Youtube voller belangloser Katzenvideos. Kein Wunder, dass Nutzerinnen und Nutzer ihre Plattform so vehement gegen die Regierung verteidigen.

Sowohl Verbot als auch Verkauf werfen grundsätzliche Fragen über die freie Meinungsäußerung auf. Gesetzgeber und Regierung der USA sind vor allem besorgt über mögliche Risiken für die nationale Sicherheit. Angeblich könnten die Daten US-amerikanischer Nutzerinnen und Nutzer an die chinesische Regierung weitergeleitet werden, weshalb es Regierungsangestellten untersagt ist, TikTok auf Dienstgeräten zu installieren.

Bereits im März vergangenen Jahres musste der Vorstandsvorsitzende von TikTok, der aus Singapur stammende Shou Zi Chew, sich den feindseligen Fragen von US-Kongressabgeordneten stellen. Ein republikanischer Abgeordneter aus dem US-Bundesstaat Georgia, Buddy Carter, sprach beispielsweise von »psychologischer Kriegsführung« Chinas gegen die USA. Teilweise klingt in den Ängsten vor TikTok etwas Verschwörungstheoretisches an.

Videos mit dem Hashtag #lettertoamerica, inspiriert von einer Hetzschrift des Massenmörders und Terroristen Osama bin Laden aus dem Jahr 2002, wurden mehrere Millionen Mal angeschaut und von jungen Menschen positiv kommentiert und geteilt.

Tatsächlich ist TikToks Mutterkonzern Bytedance in Peking registriert, und das Nationale Nachrichtendienstgesetz der Volksrepublik China von 2017 schreibt in Paragraph 7 vor, dass jedes chinesische Unternehmen den Behörden auf Wunsch der Regierung alle angeforderten Daten zu übermitteln hat. Darüber hinaus besteht der Verdacht, dass der erwähnte Algorithmus sich als effektives Propagandawerkzeug einsetzen ließe.

So kam es im November vergangenen Jahres zu einem unappetitlichen Internet-Trend. Videos mit dem Hashtag #lettertoamerica (Brief an Amerika), inspiriert von einer Hetzschrift des Massenmörders und Terroristen Osama bin Laden aus dem Jahr 2002, wurden einem Bericht der Washington Post zufolge mehrere Millionen Mal angeschaut und von jungen Menschen positiv kommentiert und geteilt.

Jüdische TikToker veröffentlichten daraufhin einen offenen Brief, in dem sie der Plattform vorwarfen, Antisemitismus nicht nur zuzulassen, sondern algorithmisch zu befeuern. »TikTok fehlt es an kritischen Sicherheitsfunktionen zum Schutz jüdischer Creators und der breiteren jüdischen TikTok-Gemeinschaft«, steht in dem Brief. Ob dies als in der Funktionsweise des Algorithmus so angelegt oder gar intendiert ist, lässt sich dabei nicht auseinanderdividieren.