Selbstbestimmung statt Paternalismus
Wohnraum ist eine Ware. Das bekommen wohl diejenigen am härtesten zu spüren, die keine Wohnung haben. Über 50 00 Obdach- und Wohnungslose gibt es Schätzungen zufolge in Berlin, und ihre Anzahl wächst seit Jahren. Selbstorganisierte Wohnungslosengruppen fordern schon lange eine bessere Wohnungslosenhilfe und politische Maßnahmen, die Wohnungslosigkeit verhindern helfen.
Auch Mieterinitiativen kritisieren die Wohnungspolitik in Berlin. Ihre Forderungen decken sich allerdings nur teilweise mit den Anliegen von Wohnungslosen. Wohl auch wegen der Proteste gegen hohe Mieten in der Hauptstadt beschloss das Berliner Abgeordnetenhaus vor gut einem Jahr neue gesetzliche Vorschriften zur Mietenbegrenzung, umgangssprachlich »Mietendeckel« genannt. Seither sind die Mieten für viele Berliner Wohnungen nicht mehr gestiegen und mussten teilweise sogar gesenkt werden. Das nützt aber nur denjenigen, die eine Wohnung haben.
Der Plan sieht vor, dass in Berlin künftig nach dem Konzept »Housing First« gearbeitet wird. Das würde heißen, dass Wohnungslose nicht mehr ihre Wohnfähigkeit unter Beweis stellen müssen, sondern ohne Vorbedingungen eine mietvertraglich abgesicherte Wohnung erhalten.
Es ist auch eine Errungenschaft der Mieterbewegung, dass viele Berlinerinnen und Berliner mit dem Begriff »Enteignung« nicht mehr eine kommunistische Schnapsidee, sondern eine wichtiges politisches Vorhaben verbinden. Fabian Kunow hat die Kampagne »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« eindrücklich als »soziale Bewegung« beschrieben. Selbst wenn bald über 200 00 Wohnungen kommerzieller Wohnraumanbieter vergesellschaftet werden sollten, wie die Kampagne es fordert, wäre allerdings ungewiss, ob das Wohnungslosen nützen würde. In der Konkurrenz um Wohnraum geraten sie als vermeintlich unsolide Mieterinnen und Mieter häufig ins Abseits.
Deshalb braucht es eine Wohnungspolitik, die die Situation und Ansprüche wohnungs- und obdachloser Menschen berücksichtigt. Die Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Elke Breitenbach, und ihr Staatssekretär für Arbeit und Soziales, Alexander Fischer (beide »Die Linke«), haben kürzlich im Tagesspiegel einen sogenannten Masterplan gegen Wohnungslosigkeit vorgeschlagen, mit dem Obdach- und Wohnungslosigkeit in Berlin bis 2030 beendet werden sollen. Der Plan wäre sicherlich nicht entstanden, hätten Wohnungslosengruppen nicht seit Jahren Druck auf politisch Verantwortliche ausgeübt. Es lohnt sich, den Plan genauer zu betrachten. Sollte er verwirklicht werden, würde das die Lebensqualität Zehntausender Menschen in der Hauptstadt deutlich verbessern.
Der Plan beruht auf einem entscheidenden Perspektivwechsel in der Wohnungslosenhilfe: Wohnungslosigkeit wird nicht mehr als individuelles, sondern als gesellschaftliches Problem aufgefasst. Für die Hilfen, die sich daraus ableiten, macht das einen erheblichen Unterschied.
Derzeit ist Wohnungslosenhilfe größtenteils mal besser, mal schlechter ausgeübte Elendsverwaltung. Es gibt Unterkünfte für Menschen ohne Wohnung, doch der Aufenthalt darin ist zeitlich begrenzt und es gibt nur wenige Einzelzimmer, viele Einrichtungen sind nicht barrierefrei und erlauben keine Haustiere. Zudem sind die Unterkünfte häufig nicht gegen Diebstahl und Gewalttaten gesichert.
In Berlin werden im Rahmen des Hilfesystems lediglich rund 150 Wohnungen pro Jahr an wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen vermittelt. Um Anspruch auf eine dieser Wohnungen zu haben, muss die interessierte Person Kriterien erfüllen. Unter anderem braucht sie vom Sozialamt eine positive sozialpädagogische Prognose, die die sogenannte Wohnfähigkeit bescheinigt. Das heißt, dass die Person zunächst Leistungen erbringen, zum Beispiel eine Drogen- oder Alkoholabhängigkeit beenden muss, um in einer eigenen Wohnung zu leben. Diese paternalistische Praxis ist entwürdigend. Zudem beruht sie auf der Annahme, dass Wohnungslose selbst für ihre Situation verantwortlich seien – als ob es nur individuelle Gründe für einen Wohnungsverlust gäbe.
Tatsächlich sind es aber auch gesellschaftliche Verhältnisse, die Menschen in die Wohnungslosigkeit treiben. Nicht jede und jeder muss befürchten, womöglich bald auf der Straße zu landen. Diese Sorge haben vor allem Menschen, die in Armut leben. Die ist aber notwendiger Bestandteil kapitalistischer Gesellschaften. Auch Rassismus und die Tatsache, dass die Mieten die Möglichkeiten gering verdienender oder arbeitsloser Mieter übersteigen, können Gründe für Wohnungslosigkeit sein.
Dem Plan zufolge soll die Wohnungslosenhilfe die Selbstbestimmung von Wohnungslosen fördern. Damit käme die Senatsverwaltung endlich Forderungen von Wohnungslosenverbänden und anderen Sachverständigen nach. Das wird vor allem an zwei Vorschlägen deutlich. Zum einen soll die Prävention von Wohnungslosigkeit verbessert werden. Dazu soll die aufsuchende Arbeit mit Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind, ausgebaut werden. Das soll zum Beispiel verhindern, dass Mahnungen und Räumungsbescheide in Briefkästen vermodern. Das ist wichtig, denn ungeöffnete Briefe haben schon des Öfteren zum Wohnungsverlust geführt.
Zum anderen sieht der Plan vor, dass in Berlin künftig nach dem Konzept »Housing First« gearbeitet wird. Das würde heißen, dass Wohnungslose nicht mehr ihre Wohnfähigkeit unter Beweis stellen müssen, sondern ohne Vorbedingungen eine mietvertraglich abgesicherte Wohnung erhalten. Sie würden so eine gesicherte Basis erhalten, von der aus sie ihr Leben selbstbestimmt neu ordnen könnten. Ambulante Hilfen sollen zusätzlich angeboten werden. »Housing First« hat sich in anderen Länder bewährt. In Finnland wird seit 2008 nach diesem Konzept gearbeitet. Es ist das einzige Land in Europa, in dem die Zahl wohnungsloser Menschen seit Jahren sinkt.
Doch um das Konzept umsetzen zu können, braucht es etwas, das in Berlin Mangelware ist: Wohnungen. Der Plan enthält Vorschläge, wie der benötigte Wohnraum beschafft werden könnte. Breitenbach zufolge gibt das Land Berlin jährlich rund 300 Millionen Euro für Wohnungslosenhilfe aus. Die Unterkünfte, das Herzstück der Wohnungslosenhilfe, kosten eine Menge Geld. Würde der Plan realisiert, würde deutlich weniger Geld für den Betrieb der Unterkünfte ausgegeben, denn diese sollen ja durch richtige Wohnungen ersetzt werden. Ein Großteil des eingesparten Geldes soll in Bau und Bewirtschaftung bezahlbarer Wohnungen investiert werden. Eine Quote bei der Wohnraumvergabe soll dafür sorgen, dass diese in erster Linie Wohnungslosen zugute kommen.
Auch Träger, die derzeit Unterkünfte betreiben, sollen sich an der Umgestaltung des Hilfesystems beteiligen. Breitenbach zufolge gibt es Träger und Wohlfahrtsverbände, die bereit wären, Wohnraum für Wohnungslose zu bauen. Gefördert werden soll dies, indem landeseigene Grundstücke künftig nicht mehr meistbietend verkauft, sondern über Erbpacht an Träger und Wohlfahrtsverbände vergeben werden. Der Anteil kommunaler Wohnungen in Berlin – derzeit 16,5 Prozent von insgesamt rund zwei Millionen Wohnungen – soll bis 2050 verdoppelt werden. Dazu würde natürlich auch ein Erfolg von »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« beitragen.
Breitenbach hat mittlerweile angekündigt, dass der Plan in dieser Legislaturperiode, also bis zum Herbst, nicht mehr beschlossen wird. Darin könnte allerdings auch eine Chance liegen, denn sollte die Linkspartei im Wahlkampf versprechen, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden, müsste sie den Plänen Breitenbachs im Falle einer erneuten Regierungsbeteiligung wohl auch Nachdruck verleihen.
Es ist nicht Aufgabe der außerparlamentarischen Linken, Beschlussvorlagen des Senats zu bejubeln, aber wichtig, die Errungenschaften von selbstorganisierten Wohnungslosengruppen anzuerkennen und voranzutreiben. Ein selbstbestimmtes Leben für alle wird man sicherlich nicht erreichen, indem man sich vom guten Willen der Regierung abhängig macht. Dennoch braucht es politische Vorhaben wie den Plan der Senatsverwaltung, denn seine Verwirklichung könnten viele Menschen vor der Wohnungslosigkeit bewahren oder ihnen helfen, aus dieser herauszukommen. Im Extremfall könnte das Leben retten.