Ada Borkenhagen, Psychoanalytikerin, im Gespräch über Schönheitsideale und den »Barbie«-Film

»Der Körper ist zum Kleid geworden«

Der Film »Barbie« wird als feministischer Kinohit gefeiert, dabei haftet Barbie seit jeher der Ruf an, unrealistische Schönheitsideale und Weiblichkeitsklischees zu reproduzieren. Ein Gespräch mit Ada Borkenhagen über kulturelle und gesellschaftliche Dimensionen und den Wandel von Schönheitsidealen.
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Viele Altachtundsechziger-Eltern haben ihren Töchtern verboten, mit Barbies zu spielen, weil sie davon ausgingen, es könnte einen negativen Einfluss auf das Selbstwertgefühl der Mädchen haben. Meinen Sie, an der Sorge ist was dran?
Ich kann von einem Verbot nur abraten, es bringt nichts. Ich denke aber schon, dass an der Sorge etwas dran ist, weil Barbie ein Schönheitsideal verkörpert. Was man der Barbie-Puppe hingegen zugutehalten muss, ist, dass sie ein eman­zipiertes Frauenbild transportiert. Sie wird häufig in der Berufstätigkeit dargestellt, sie ist sogar Raumfahrerin. Barbie hat zur Emanzipation beigetragen, allein dadurch, dass sie eine Anziehpuppe und keine Babypuppe ist. Mädchen können mit der Barbie ein Idealbild von sich selbst entwerfen und mussten nicht mehr immer nur Mama für die Babypuppe spielen.

Barbies unrealistische Körperproportionen wurden oft für die Magersucht von Mädchen verantwortlich gemacht. Besteht überhaupt ein Zusammenhang zwischen Schön­heitsidealen und Magersucht?
Magersucht ist eine historisch und kulturell begründete Krankheit, die erst zu einem bestimmten Zeitpunkt auftritt und eine bestimmte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und ein bestimmtes Frauenbild voraussetzt. Es hat zwar vor der klassischen Magersucht immer schon Hungerkrankheiten gegeben, davon waren im Mittelalter eher Männer betroffen, die sogenannten Hungerkünstler. Auch gab es die sogenannte Heiligenanorexie, für die Hildegard von Bingen ein Beispiel ist. Sie hat aber gehungert, um Gott näherzukommen, also ein religiöses Ideal zu erfüllen. Die klassische Magersüchtige eifern einem ästhetischen Schlankheitsideal, einem bestimmten Frauenbild nach. Die Magersucht setzt voraus, dass es in den Kreisen, in denen sie auftaucht, genug zu essen gibt. Deswegen gibt es keine Magersucht in Gesellschaften oder Gesellschaftsschichten, die hungern. Mit dem Dünnsein kann man dort symbolisch nichts ausdrücken.

Also wollen Magersüchtige tatsächlich dünn sein? Versuchen sie durch das Abmagern nicht viel eher, sich dem Frauwerden und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Zwängen und Erwartungen zu entziehen?
Das ist korrekt, die Zusammenhänge sind jedoch komplizierter. In den 1870er Jahren bildete sich ein Schlankheitsideal für Frauen heraus und erst dann entsteht die Magersucht im heutigen Sinne. Zuvor war Wohlbeleibtheit ein Ausweis von Wohlstand. Erst als mit der Industrialisierung Lebensmittel in größerem Ausmaß zur Verfügung standen, entstand das Schlankheitsideal. Zu dieser Zeit beginnen Frauenratgeber, das Maßhalten im Essen zu propagieren, Korpulenz gilt nun als Zeichen ungezügelter Triebhaftigkeit und Gier. Frauen sollten ihre Bedürfnisse stark kontrollieren und nicht so triebgesteuert sein wie die Männer. Die Anorektikerin rebelliert gegen dieses Frauenbild und diese Bedürfniskontrolle, indem sie sie pervertiert.

Für 2024 ist beim Verlag Klett-Cotta die Veröffentlichung ihres Buchs »Bin ich schön genug? Schönheitswahn und Body Modification« geplant. Was meinen Sie mit Schönheitswahn?
Ich glaube, es ist sozial erwünscht, von Schönheitswahn zu sprechen, was aber eigentlich dahintersteht, ist der Optimierungsimperativ. Und der ist das Entscheidende. Überall werden wir dazu angehalten, uns zu optimieren, und die Schönheit ist nur ein Bereich davon.

Inwiefern ist der Optimierungswahn geschlechtsspezifisch?
Es gibt diese Geschlechtsspezifik, wenngleich der Imperativ, schön oder attraktiv zu sein, mittlerweile auch für Männer bedeutsamer geworden ist. Dennoch machen vor allem Frauen ihren Selbstwert von ihrem Aussehen abhängig und werden auch von außen darüber definiert. Männer können das bis zu einem gewissen Grad noch immer mit Geld und Statussymbolen kompensieren. Bei Frauen ist das unmittelbarer, ihr Aussehen hat viel mit der eigenen Identität oder Identitätszuschreibungen zu tun. Für Frauen ist es daher viel wichtiger als für Männer, als attraktiv wahrgenommen zu werden.

Haben Sie eine Erklärung dafür?
Dass Frauen als das »schöne Geschlecht« gelten, ist eine kulturelle Entwicklung. Das waren sie nicht immer. Beim Menschen gibt es keine augenscheinliche ästhetische Vorherrschaft eines Geschlechts, wie beispielsweise beim Pfau. Der ist eindeutig farbenfroher und prächtiger im Gefieder als die Pfauenhenne. Bei den Pfauen wählt die Pfauenhenne ihren Partner unter anderem auch danach, wie prächtig sein Gefieder ist. Dass man die Frauen zum schönen Geschlecht erklärt hat, verweist darauf, dass bei den Menschen die Männer wählen. Das beginnt, als sich das Allianzprinzip auflöst. Der Adel hat aus Kalkül geheiratet, um Allianzen zu bilden. Das Aussehen der Frau war absolut zweitrangig. Zumal die Kleidung das Aussehen mehr bestimmt hat, sie hat den Körper geformt.

Hat sich also die Bedeutung des Körpers verändert?
Seit den 1920er Jahren wird die Kleidung immer unwichtiger, der Körper wichtiger. Die Kleidung dient nur noch zu seiner Untermalung. Das sieht man auch an den Stoffen. Plötzlich gibt es durchsichtige Stoffe, Stoffe, die extrem elastisch sind und den Körper unbarmherzig zeigen. In früheren Jahrhunderten hat man mit dem Korsett und den Kleiderschichten den Körper geformt. Ob man einen breiten Po hatte oder nicht, konnte man unter den Kleidern nicht erkennen.

»Für Frauen ist es viel wichtiger als für Männer, als attraktiv wahrgenommen zu werden.«

Frauen mussten ein schönes Gesicht haben, vielleicht noch schöne Haut, aber alles andere konnten sie auspolstern. Heutzutage ist der Körper zum Kleid geworden. Noch 2012 sagte Karl Lagerfeld, wer eine Jogginghose trägt, habe die Kontrolle über sein Leben verloren. Inzwischen sieht man die Sportbekleidung als ganz normale Straßenkleidung, und sie ist oft sehr enganliegend. Das bedeutet, dass man jede Beule am Körper sehen kann. Entsprechend verändern sich die Schönheitsansprüche.

Inwiefern? Und welche Folgen hat das?
Ganz besonders zu sehen ist das, seit es so einen Hype um den Po gibt. Es gibt jetzt Sportleggings, die eine eingearbeitete Porille haben (scrunch butt leggings, Anm. d. Red.), und damit können sie die Form der Pobacke nochmal ganz anders sehen. Die jungen Mädchen in meinem Fitnessstudio machen Po-Übungen, das scheint sehr anstrengend zu sein. Entsprechend gibt es auch neue medizinische Methoden, den Hintern zu vergrößern und zu formen, unter anderem auch mit Hyaluronsäure, was an dieser Stelle gefährlich ist. Die ist nicht generell gefährlich, dermal fillers im Gesicht sind relativ unbedenklich. Aber aufgrund der besonderen Beschaffenheit des Gewebes im Po kann die Hyaluronsäure sich in den Gefäßen ablagern. Das kann bis zum Tod führen.

Haben sie eine Erklärung dafür, dass ausgerechnet der Po ins Zen­trum des Schönheitsempfindens gerückt ist?
Das Wesen von Mode ist, dass sie sich ändern muss. Nach dem Hungerhaken der neunziger und nuller Jahre war es absehbar, dass kurvige Frauenkörper schick werden. Außerdem ist es noch schwieriger, eine ganz schmale Taille zu haben, einen wohlgeformten Hintern und dann noch einen ausladenden Busen. Wir haben jetzt ein Körperideal, das man um 1900 noch mit einem Korsett schnürte. Jetzt müssen Sie den Körper selbst so formen.

Barbies altern nicht. Was hat es mit der Angst zu altern auf sich, ist das ein Ausdruck der Angst vor dem Tod? Und wie hängt das mit Schönheitsidealen zusammen?
Das Jugendlichkeitsideal ist zentral für das Schönheitsideal, ich denke, es ist noch fundamentaler als das Schlankheitsideal. Die westlichen Gesellschaften altern, die Lebenserwartung steigt. Die heutige Generation will länger gesund und fit bleiben und ist willens, früh Alterserscheinungen zum Beispiel der Haut entgegenzuwirken. Es besteht hier ein enormer gesellschaftlicher Druck. Denn die Identität definiert sich heutzutage über den Lebensstil und dazu gehört auch, wie viel Sie in Ihr Aussehen investieren. Das schöne Altern ist wichtig; die Falten, die Sie haben, sollen schöne Falten sein. Sie sollen aussehen wie eine Vintage-Designertasche. Genauso sehen die Schauspielerinnen aus, die Moderatorinnen über 50. Die gehen nicht zum Botox-Doktor um die Ecke, wo es die Spritzen auf Flatrate gibt, sondern zum ästhetischen Mediziner, der aus ihrer Schicht kommt und sie individuell berät.

Ist Schönheit also auch eine Klassenfrage?
Ein guter Schönheitsdoktor würde einem nicht die Lippen aufspritzen, so dass man aussieht wie eine Schnabelente, oder die Haut unrealistisch glätten. Für diese Schönheit brauchen Sie Geld, Zeit und Wissen. Sie müssen schon viele Jahre einen gesunden Lebensstil pflegen, mit Sport, ausgewogener Ernährung, Urlauben an den richtigen Stränden. Ein bisschen sonnengebräunter glow ist erwünscht, aber nicht mehr diese Mallorca-Bräune, die steht für die Unterschicht.

»Man macht sich nicht klar, wie sehr Schönheit auch eine Klassenfrage ist.«

Man macht sich nicht klar, wie sehr das auch eine Klassenfrage ist. Die Angehörigen der Schichten, die auf den Schönheitswahn schimpfen, sind oftmals diejenigen, die vom Leben ganz gut bedacht worden sind und einem natürlichen Schönheitsideal folgen. Das ist aber auch ein Schönheitsideal und sie unterliegen ihm genauso. So ist es sehr bequem, auf die jungen Mädchen herabzublicken, die die Kardashians nachahmen und sich die Lippen aufspritzen lassen.

Ada Borkenhagen

Ada Borkenhagen, Psychoanalytikerin

Bild:
privat

Ada Borkenhagen ist Psychoanalytikerin mit einer Niederlassung in Berlin und Professorin an der medizinischen Fakultät der Universität Magdeburg. Sie ist Expertin auf dem Gebiet der Körperdysmorphophobie und hat zu den Themen Reproduktionsmedizin, Anorexia nervosa und Schönheitschirurgie geforscht und publiziert. Für 2024 ist die Veröffentlichung ihres Buchs »Bin ich schön genug? Schönheitswahn und Body Modification« beim Verlag Klett-Cotta geplant.