Olúfẹ́mi Táíwò, Philosoph, im Gespräch über Dekolonialismus

»Es ist wie ein Fieber«

Seit Jahren ist »Dekolonisierung« der tonangebende Begriff in den Geisteswissenschaften. Der in Nigeria geborene und an der Cornell University im Bundesstaat New York lehrende Olúfẹ́mi Táíwò stellt in seinem 2022 erschienenen Buch »Against Decolonisation. Taking African Agency Seriously« die Grundthesen des Postkolonialismus in Frage. Im Interview mit der »Jungle World« spricht er über Unklarheiten und Sackgassen im Diskurs und die Infantilisierung Afrikas.
Interview Von

An Universitäten, im Kulturbetrieb, in Museen und in der Politik wird seit Jahren die Forderung immer lauter, die Welt vom Erbe des Kolonialismus zu befreien und die Dekolonisierung voranzutreiben. Sie sagen: Das ist Unsinn. Warum?
Weil es intellektuell unredlich und ungenau ist. Mit Dekolonisierung sind zwei verschiedene Dinge gemeint. Die erste Bedeutung des Wortes bezieht sich auf die Auflösung der eu­ropäischen Kolonialreiche und die Verwandlung der einstigen Kolonien in sich selbst regierende Staaten. Dieser Prozess ist in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen worden, als die afrikanischen Staaten die Unabhängigkeit erlangten.
Im zweiten Sinn des Begriffs meint Dekolonisierung, dass alle vermeintlich verbliebenen Spuren des Kolonialismus in Politik, Sprache, Kultur, Wissenschaft, Literatur, Wirtschaft und so weiter entfernt werden sollen. Und da beginnen die Probleme: Wenn man so etwas fordert, geht man davon aus, dass der afrikanische Kontinent vor der Kolonisierung durch Europäer nicht von anderen Imperien beherrscht wurde. Wenn man die Geschichte ernst nimmt, sollte man sorgfältig argumentieren. Extrem viele Dinge im Diskurs über Dekolonisierung schaffen Unklarheit und erhellen nur wenig.

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