Die Serie »Die verlorenen Blumen der Alice Hart« verfolgt feministische Ziele, erreicht sie aber nicht

Blumen, Trauma und Küchen­psychologie

Die australische Miniserie »Die verlorenen Blumen der Alice Hart« zieht alle Register des populären Qualitätsfernsehens. Das Thema, nämlich von Männern verübte Gewalt, vor der Frauen in der Serie auf eine Blumenfarm flüchten, wird aber gen Ende allzu küchen­psychologisch aufgelöst.

»The Lost Flowers of Alice Heart« ­beginnt mit so idyllischen wie kitschigen Bildern, die aussehen wie aus dem Katalog: ein Einfamilienhaus, freistehend in einer atemberaubenden Landschaft. Papa, Mama und Tochter spielen im Abendlicht auf dem Feld und haben Spaß, der sich später drinnen lachend bei ­Musik und Tanz fortsetzt. Aber der Schein trügt. Die Heile-Welt-Atmosphäre wird schnell und hart unterbrochen, denn tatsächlich werden die Mutter Agnes (Tilda Cobham-Hervey) und die neunjährige Tochter Alice (Alyla Browne) vom Vater Clem (Charlie Vickers) mit physischer und emotionaler Gewalt terrorisiert.

Was zunächst idyllisch wirkte, kippt nun: Die weite Landschaft steht plötzlich für die Atomisierung und Einsamkeit in der Zwangsgemeinschaft Familie, das Einfamilienhaus erscheint als Herrschaftsbereich ­eines patriarchalen Kontrollanspruchs, und der starke Mann, der das lachende Kind erst auf den Schultern trug, erweist sich als eine Quelle von Angst und Schmerz. Schnell lernt das Publikum, dass die schwangere Mutter plant, gemeinsam mit Alice noch vor der Geburt des zweiten Kinds ­ihrer Beziehung zu entfliehen. Aber stattdessen kommt es zur Katast­rophe und Alice verliert ihre Eltern durch eine Eskalation, die in einen verheerenden Brand mündet.

Das Blumenfeld als Safe Space. Alice (Alycia Debnam-­Carey) wurde als Kind von ihrem ­Vater misshandelt

Das Blumenfeld als Safe Space. Alice (Alycia Debnam-­Carey) wurde als Kind von ihrem ­Vater misshandelt

Bild:
Amazon Studios

Die verwaiste und schwer traumatisierte Alice kommt unter die Fittiche ihrer Großmutter June Hart (herausragend gespielt von Sigourney Weaver), die sie bis dato nicht kannte. June lebt in einer lesbischen Beziehung mit Twig (Leah Purcell) und betreibt mit dieser gemeinsam, aber deutlich dominierend, die abgelegene Blumenfarm Thornfield, die zugleich als anonyme Zufluchtsstätte für von Gewalt betroffene Frauen und Kinder fungiert und auch von einem Kollektiv ehemals Betroffener betrieben wird.

Im Kontrast zu dem gebrochenen Kleinfamilienidyll wirkt die Blumenranch wie ein feministisches, kollektivistisches Utopia. Aber die ­Matriarchin June ist ihrerseits kon­trollsüchtig, wortkarg und zudem offenkundig voller Geheimnisse über ihre eigene Vergangenheit. Warum hatte sie keinen Kontakt zu ihrem Sohn Clem? Was wusste sie über ­dessen Gewalttätigkeit? Trägt sie eine Mitschuld an seinem Verhalten?

Die australische Miniserie aus dem Hause Amazon beruht auf dem gleichnamigen Roman, den Holly Ringland 2018 veröffentlicht hat; ­Regie führte der noch weitgehend unbekannte Jungregisseur Glendyn Ivin. Das Kernthema ist weniger die häusliche Gewalt durch Männer selbst, es sind vielmehr deren traumatische Folgen und ihre gelingende oder auch scheiternde Verarbeitung. Damit motivisch eng verzahnt sind die titelgebenden »verlorenen Blumen«, denn die Frauen der Familie Hart haben eine Geheimsprache entwickelt – bestimmte Kombinationen aus Blumen sind Codes, die in einem Buch zusammengefasst sind und im weiblichen Teil der Familie weitergereicht und gelehrt werden.

Aufblitzende Erinnerung. Alices Vater nimmt seine Tochter mit ins Feld

Aufblitzende Erinnerung. Alices Vater nimmt seine Tochter mit ins Feld

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Amazon Studios

Alice verstummt zunächst und muss ihre Sprache in der neuen ­Umgebung wiederfinden. Dies gelingt nach und nach, nicht nur durch die Einführung in die Blumensprache, sondern auch mit Hilfe eines neugewonnenen gleichaltrigen Freundes namens Dylan (Sebastián Zurita). Die Inszenierung des kindlichen Traumas verbindet kurze Rückblenden geschickt mit den Symptomen des Mädchens und ist zuweilen rührend inszeniert.

Normalität kehrt ein, Zeit vergeht. Aber die Geheimnisse der Groß­mutter holen Alice als junge Frau (Alycia Debnam-Carey) ein und eine Reihe bestürzender Wiederholungen scheint sich abzuzeichnen. Als narrativer Pulsschlag der sieben Episoden erweist sich nach und nach das Schweigen über Traumata, die Unfähigkeit zu kommunizieren, vor allem seitens Junes, die glaubt, alles im Griff zu haben, während doch alles zerbricht.

Als narrativer Pulsschlag der sieben Episoden erweist sich das Schweigen über Traumata, die Unfähigkeit zu kommunizieren, vor allem seitens Junes, die glaubt, alles im Griff zu haben, während doch alles zerbricht.

Den Kontrast zu den Wildblumen der Farm bilden die Holzskulpturen des verstorbenen Vaters Clem. Sie ragen als dessen unheimliche Präsenz in die Handlung und werden als geheimnisvolle Bedeutungsträger inszeniert: Oft tauchen sie im Halbdunkel an einem dem Mädchen verbotenen Ort auf der Ranch auf, zuvor in der Werkstatt des Vaters, zu dem der Zutritt ebenfalls verboten war. Sie erinnern an Fetischobjekte: Immer wieder ist da diese Ahnung, dass diese Gegenstände mehr sein könnten als bloß tote Verewigungen von Gesichtern und Körpern.

Gegenüber diesen männlich konnotierten, leblosen Skulpturen sind die Wildblumen das vergehende Leben selbst, dem man beim Verwelken zusehen kann. Sie sind auf Pflege angewiesen und für den Moment ­bestimmt, nicht für die Ewigkeit. Die vergeschlechtlichte Dimension dieser Motive spiegelt den Widerspruch zwischen dem kommunalen Charakter von Thornfield und dem einsamen Alptraum der Kleinfamilie ­wider, ohne diesen zunächst aufzulösen oder ganz klar an Identitäten zu binden; eine poetische Dimension, die den fesselnd inszenierten Plot ­ergänzt und Erwartungen an ein komplexes Erzählen weckt.

Diese Erwartungen werden aber nicht eingelöst. Die gesetzten Mo­tive bleiben Verzierung. Insbesondere das in der Blumenfarm Thornfield aufscheinende Versprechen anderer Beziehungsformen bleibt ein klischeehaftes Hintergrundbild für die letztlich sehr bekömmliche Geschichte, die sich am Ende allein um die Aufdeckung von Geheimnissen dreht. Die Machart der Serie orientiert sich weitgehend an jenem Erfolgsschema, das untrennbar mit dem Namen des Fernsehsenders HBO verknüpft ist und spätestens ab den frühen nuller Jahren mit Serien wie »The Wire« das Qualitätsfernsehen neu erfand.

Lang anhaltendes Trauma. June tröstet Alice

Lang anhaltendes Trauma. June tröstet Alice

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Amazon Studios

Seither ist die High-End-Serie zu einem beliebten Marktsegment geworden und hat einen Fundus an erprobten Stilmitteln und narrativen Standards entwickelt. Dazu zählt eine Verschaltung von ambivalenter und psychologisch aufgeladener Figurenzeichnung mit narrativen Twists, die Überraschendes und Abgründiges zulassen und darin mit der biederen Wohlbekömmlichkeit der Vorabendserie brechen. Im Fall von »The Lost Flowers of Alice Hart« tritt zu diesem schematischen Bestehen auf psychologischer Ambivalenz auch ein Anspruch auf feministisches Empow­erment.

Entweder die von Männern ausgeübte Gewalt gerät zur Natur­gewalt, die über ihre Opfer hereinbricht, oder aber sie ist selbst lediglich ein Resultat vorangegangener Traumata. Beides mystifiziert beziehungsweise verharmlost, was die Serie eigentlich kritisieren will.

Diese bewährte Art des seriellen Erzählens gewinnt hier allerdings eine unerwartet problematische Qualität. Nicht nur bleibt der gewalttätige Mann als düsterer Impulsgeber im Zentrum des Plots, sondern zuletzt, nach mehreren Twist-Kaskaden in Bezug auf die ambivalent gezeichneten weiblichen Protagonistinnen, bleiben als Begründung für seine Gewalttätigkeit nur zwei Möglichkeiten übrig: eine genetische Disposition oder eine individuelle Weitergabe von Traumata. Letzteres liegt in der küchenpsychologisch verbrämten Logik des Plots freilich näher, und die Weitergabe ­erfolgte dann ausgerechnet durch die kontrollsüchtige und ihrerseits schwer traumatisierte Mutter June.

Diese Schlussfolgerung wirkt wie ein monströser Fehler: Statt von Männern ausgeübte Gewalt zu kri­tisieren, wird sie unterschwellig, aber umso fester mit der trivialpsychologischen Binnenlogik des Plots verschraubt. Zuletzt hat man hat die Wahl: Entweder sie gerät zur Natur­gewalt, die über ihre Opfer hereinbricht, oder aber sie ist selbst lediglich ein Resultat vorangegangener Traumata. Beides mystifiziert beziehungsweise verharmlost, was die Serie eigentlich kritisieren will.

Dementsprechend erweist sich auch alles, was in der Serie auf Kernfamilienideologie und Geschlechternormen verweist, zuletzt als bloße Staffage, die jenen Anschein von ­Kritik erwecken soll, den das Qualitätsfernsehen nun mal braucht, um zu beweisen, doch mehr als bloße Seifenoper zu sein.

»Die verlorenen Blumen der Alice Hart« (AUS 2023) kann bei Amazon Prime gestreamt werden.