Das Urteil zur »Schuldenbremse« setzt die Bundesregierung unter Druck

Ungebremste Sparpolitik

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur »Schuldenbremse« setzt die Bundesregierung unter enormen Druck. Die deutsche Industrie will Subventionen, doch FDP und Union drängen auf einen Sparkurs.
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Die Bankenkrise vor 15 Jahren war die Geburtsstunde der sogenannten Schuldenbremse. Die Große Koalition hatte damals die faulen Kredite der deutschen Finanzinstitute in einer bad bank entsorgt. Die Banken galten als »too big to fail«, sie durften ihre Profite behalten und ihre Schulden sozialisieren. Damals lästerte ein südamerikanischer Politiker: Wäre das Weltklima eine notleidende Bank, wäre es längst gerettet.

Die Höhe der deutschen Staatsverschuldung kletterte auf über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. 2009 ­beschloss der Bundestag mit Zweidrittelmehrheit, die sogenannte Schuldenbremse ins Grundgesetz aufzunehmen. Seit 2011 besitzt sie Gesetzeskraft und schreibt vor, die Haushalte von Bund und Ländern ohne Kreditaufnahme auszugleichen. Der deutsche Staat kürzte seine Ausgaben, bis man die 60 Prozent Staatsverschuldung wieder unterschritt. Das war in 2019 der Fall.

Dann kam die Covid-19-Pandemie, sie war unter der Restriktion der Schuldenbremse nicht zu bewältigen. Die Pandemie erfüllte das gesetzliche Kriterium eines außergewöhnlichen Notstands, was es der Bundesregierung erlaubte, deutlich mehr Schulden aufzunehmen. Als sich herausstellte, dass ein Gutteil dieses Geldes nicht verbraucht worden war, widmete die Bundesregierung die Finanzmittel um und stattete ihren Klima- und Transformationsfonds damit aus. De facto wurde damit die Schuldenbremse umgangen.

Das Bundesverfassungsgericht hat nun entschieden: Das war nicht verfassungskonform. Das Urteil hat eine Lücke von 60 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt gerissen.

Auf dem Spiel steht nun die Stellung der deutschen Industrie auf dem Weltmarkt.

Es fehlen demnach etliche Milliarden, die nötig wären, um den ökologischen Umbau der Industrie zu finanzieren. Auf der Kippe stehen zum Beispiel Subventionen für die Ansiedlung von Halbleiterindustrie: zehn Milliarden Euro für die Chipfabrik von Intel in Magdeburg etwa, oder eine Milliarde Euro für die Chipproduktion von Infineon in Dresden.

Ist es ein Drama, wenn hochprofitable, nur ihren Aktionären verantwortliche Konzerne keine Staatsknete bekommen? Eigentlich nicht. Aber wenn diese Mikrochips Herzstück von Solaranlagen, Windrädern, E-Autos und Wärmepumpen sind, dann sieht die ­Sache anders aus. Auf dem Spiel steht nun die Stellung der deutschen Industrie auf dem Weltmarkt. Denn die Konzernvertreter können wählen, wem sie ihre Gunst gewähren: Wo gibt’s das meiste Subventionsgeld? Die Bundesregierung konkurriert unter anderem mit den USA, die mit ihrem keynesianisch inspirierten »Inflation Reduction Act« deutlich mehr Subventionsgelder verteilt.

Das Urteil des Verfassungsgerichts zwang das Kabinett, den Haushalt 2023 zu überarbeiten. Am Montag hat die Bundesregierung ­einen Nachtragshaushalt verabschiedet, der rund 25 Milliarden Euro zusätzlicher Schulden vorsieht. Damit bleibt die Schuldenbremse das vierte Jahr in Folge ausgesetzt. Die auch im Jahr 2024 noch unbewältigten Folgen der Energiekrise, ausgelöst durch Russlands Krieg gegen die Ukraine, dienten demBundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) als Rechtfertigung.

Aber künftig müsse kräftig gespart werden, schob Lindner gleich nach. Die Schuldenbremse will er unbedingt beibehalten. Seine Wähler sind vor allem die kleinen Selbständigen, die Eigentümer von Familien- und Handwerksbetrieben. Dieses Klientel will ­niedrige Steuersätze und abgespeckte Sozialabgaben, das versteht es unter Liberalismus. Die der Großindustrie gewährten Subventionen gelten ihm als Verrat an der liberalen Idee. Baut der Handwerksmeister nicht gerade Wärmepumpen ein, geht ihm das grüne Transformationsgedöns am Hintern vorbei. Lindners Problem: Dass die drei Geschäftsführer von Infineon der FDP vielleicht gewogen sind, macht die Verluste nicht wett, welche die Partei erleidet, wenn sie all die Mittelständler als Wähler verliert. Die nächsten Landtagswahlen und die fürs Europaparlament stehen in 2024 an.

Auch der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hat sich in Schwierigkeiten gebracht, auch wenn er glaubt, alle Trümpfe in der Hand zu haben. Er beharrt auf der Schuldenbremse, hat sogar mit einer Verfassungsklage gedroht, falls sie 2024 erneut ausgesetzt wird. Merz kalkuliert wohl, er könne der Koalition sein Sparprogramm diktieren und wegkegeln, was ihm als »soziale Wohltaten« erscheint, zum Beispiel das, was von der geplanten Kindergrundsicherung noch übrig ist.

­Stockend verläuft der Ausbau der Ladestationen und Stromtrassen, marode sind die Schienenwege, Autostraßen, Hafenbecken und Wasserwege, das Ergebnis Jahrzehnte lang unterbliebener öffentlicher Investitionen.

Doch hat Merz die Rechnung offenbar ohne die CDU-geführten Landesregierungen gemacht. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU), beispielsweise, ist gar nicht erbaut von der Vorstellung, auf die für die Intel-Fabrik vorgesehenen Milliarden verzichten zu müssen. Die politischen Folgen eines Sparhaushalts, dem die in Aussicht gestellten Arbeitsplätze zum Opfer fallen, will der Ministerpräsident nicht riskieren. Auch Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (beide CDU) sehen in der Schuldenbremse nicht der Weisheit letzten Schluss.

Die Marktradikalen in der Union und der FDP schlagen den Sack und meinen den Esel: Sie verdammen das Schuldenmachen, weil sie den Keynesianismus verhindern wollen, also eine Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, die Nachfrage der Konsumenten zu stärken. Dabei soll die zusätzliche Staatsverschuldung gar nicht den Sozialbudgets zugutekommen, sondern der zu modernisierenden ­industriellen Infrastruktur.

Dass dies ökologisch sinnvoll ist, lässt sich kaum bestreiten, es ist aber auch ökonomisch notwendig. ­Stockend verläuft der Ausbau der Ladestationen und Stromtrassen, marode sind die Schienenwege, Autostraßen, Hafenbecken und Wasserwege, das Ergebnis Jahrzehnte lang unterbliebener öffentlicher Investitionen. Die Wirkung solcher Argumente aber lässt ­gegenwärtig nach. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat den Neoliberalen wieder Auftrieb gegeben.