In der Debatte über sogenannte Pull-Faktoren erlischt auch das letzte Fünkchen Anstand

Das Märchen von den Pull-Faktoren

Deutschland diskutiert über sogenannte Pull-Faktoren. Für Flüchtlinge soll der Anreiz, nach Deutschland zu kommen, minimiert werden. Mit den eigentlichen Fluchtursachen hat das wenig zu tun, aber es macht die Lebensbedingungen der betroffenen Menschen noch miserabler.

In welchen Tiefen die sogenannte Flüchtlingsdebatte inzwischen angekommen ist, führte jüngst Heiko Teggatz exemplarisch vor. Er ist Vorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft, einer Gliedorganisation der Deutschen Polizeigewerkschaft, und wusste zur Debatte über die vielzitierten »Pull-Faktoren« beizutragen, man müsse für Flüchtlinge die Anreize, nach Deutschland zu kommen, minimieren, so dass für ihre Versorgung nur noch »Bett, Brot und Seife« übrigbleiben sollten.

Wie andere auch treibt den Mann insbesondere um, dass viele, die vom Dublin-System gezwungen werden, in Griechenland ihren Asylantrag zu stellen, bei erstbester Gelegenheit versuchen, aus den desaströsen Verhältnissen dortiger Aufnahmeeinrichtungen zu entkommen und nach Nordeuropa weiterzuziehen. Sie täten dies vor allem, so die Conclusio eines von der Welt zitierten Geheimpapiers deutscher Sicherheitsbehörden, aufgrund »bekannter Pull-Faktoren«. Übersetzt heißt das: Menschen kommen, weil die Zustände in Griechenland schlicht unerträglich sind – eine Erkenntnis, zu der auch schon deutsche Gerichte kamen und deshalb Rückführungen dorthin untersagten.

Unerträglich sind Lebensbedingungen nicht etwa, weil Griechenland kein Geld von der EU erhielte, um sie besser zu gestalten, sondern weil die Regierung in Athen ihrerseits argumentiert, Menschen kämen aufgrund irgendwelcher Pull-Faktoren aus der Türkei. Deshalb müssten Aufnahmeeinrichtungen so abschreckend wie möglich gestaltet werden. Nun freut sich die griechische Regierung nicht nur über jeden Flüchtling, der in der Türkei bleibt, sondern auch über jeden, der das Land gen Norden verlässt. So führt die Theorie der Pull-Faktoren in einen Unterbietungswettbewerb, in dem jedes Land versucht, die Lebensbedingungen von Flüchtlingen auf ein noch mieseres Niveau zu drücken als jene Länder, aus denen Flüchtlinge einreisen oder in welche sie weiterreisen könnten.

Der Phantasie, wie man Lebensbedingungen weiter gezielt verschlechtern kann, sind keine Grenzen mehr gesetzt.

Sobald man bei Betten, Brot und Seife angelangt wäre, käme vielleicht irgendein Politiker mit dem Vorschlag daher, ein wenig hungern lassen müsse man Flüchtlinge schon, denn mit Brot gesättigt zu sein, wirke schließlich auch als Pull-Faktor. Kurzum, es handelt sich um eine Geschichte, die man fast ad ultimo weiterspinnen könnte, im Vergleich zur Situation in vielen Ländern dieser Welt lässt sich schließlich eine noch so miserable Versorgung in Europa noch immer als Pull-Faktor auffassen. Deshalb sind der Phantasie, wie weit man Lebensbedingungen gezielt verschlechtern kann, keine Grenzen gesetzt. Denn irgendwelche von Humanität getrübten Überlegungen spielen schon lange keine Rolle mehr.

Humanität selbst steht vermutlich schon im Verdacht, als gefährlicher Pull-Faktor zu wirken. So entschieden jüngst einige Bundesländer, fortan ein Bezahlkartensystem für Asylbewerber einzuführen, damit diese kein Bargeld in die Hand bekommen, das sie dann unter Umständen gar an Familienmitgliedern in ihrem Herkunftsland überweisen. Denn auch dies ist, wie irgendwelche Experten entdeckt zu haben meinen, ein gewichtiger Pull-Faktor, der abgestellt werden müsse. Man wolle, wie es in einem Migrationspapier der FDP heißt, nicht noch »durch direkte Geldzahlungen einen zusätzlichen Anreiz« geben, »nach Deutschland zu kommen«.

Ganz abgesehen davon, dass solche Bezahlsysteme, wie der Bayerische Flüchtlingsrat kritisiert, einen »massiven Einschnitt in das Recht auf Selbstbestimmung« darstellen, demonstrieren seine Verfechter, wie wenig sie von der ganzen Flüchtlingsdynamik verstehen. Die fasste kürzlich eine pensionierte Lehrerin in der in Rojava gelegenen syrischen Stadt Qamishli in einem Gespräch so zusammen: Durch Teuerung und Verfall des Syrischen Pfunds erhalte sie im Monat nur noch umgerechnet zehn Euro Rente. Das reiche gerade mal für ein Kilo Fleisch. Hätte sie nicht Verwandte in Deutschland und Frankreich, die ihr manchmal Geld schickten, müsste sie entweder verhungern oder versuchen, zumindest in die Türkei zu fliehen.

Wie ihr geht es Millionen Menschen in Syrien und Afghanistan, um nur zwei von vielen Ländern zu nennen: Sie leben hauptsächlich von dem Geld, das Verwandte oder Freunde in reicheren Ländern entbehren können. Oft sind es ein paar Euro-Scheine, die ein Weiterleben an Ort und Stelle ermöglichen. Sollten diese allerdings ausbleiben, entsteht schnell das, was »Push-Faktor« genannt wird. In Fachkreisen ist seit Jahrzehnten bekannt, dass viele ärmere Länder des sogenannten Globalen Südens von derartigen Transferzahlungen abhängig sind. Kommen diese nicht mehr, verschärfen sich die ohnehin schon grassierenden ökonomischen Krisen noch einmal.

Trotz unzähliger neuer Schikanen und Repressalien kamen 2023 in Italien und Großbritannien weit mehr Flüchtlinge an als in den Jahren zuvor. Das lag ganz sicher nicht an irgendwelchen Pull-Faktoren.

Die Zahlen von Neuankünften in Italien und Großbritannien, in denen jeweils Regierungen mit dem Versprechen antraten, Migration entschiedener zu bekämpfen, sprechen derweil eine deutliche Sprache: Trotz unzähliger neuer Schikanen und Repressalien kamen 2023 in beiden Ländern weit mehr Flüchtlinge an als in den Jahren zuvor. Das lag ganz sicher nicht an irgendwelchen Pull-Faktoren, sondern daran, dass weltweit die Zahl von Bürgerkriegen, Kriegen und autoritären Regimes steigt und daher Jahr für Jahr mehr Menschen zur Flucht gezwungen sind.

Früher war deshalb in Europa auch noch davon die Rede, dass man irgendwie Fluchtursachen bekämpfen und so Push-Faktoren minimieren müsse. Von dieser Idee haben sich die politisch Verantwortlichen offenbar längst verabschiedet, lieber stürzt man sich mit Eifer auf die Pull-Faktoren und hofft, so den Eindruck zu vermitteln, der sogenannten Flüchtlingskrise Herr zu werden, von der inzwischen große Teile der Bevölkerung glauben, sie sei das dringendste Problem im Lande.

Das wird, wie die Vergangenheit zur Genüge gezeigt hat, zu noch mehr Elend und zu noch unwürdigeren Bedingungen für die wenigen führen, die es überhaupt nach Europa geschafft haben; irgendein Problem wird so jedoch nicht gelöst werden. Aber vielleicht soll es das ja auch gar nicht, denn schließlich profitieren so viele von dieser Krise, nicht zuletzt all die rechtspopulistischen Politiker, deren Parteien sich gerade rapide wachsender Zustimmung erfreuen.