Viele Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überlebt haben, fristen ihren Lebensabend in Deutschland in Altersarmut

Shoah-Überlebende leben in Armut

Viele Shoah-Überlebende in Deutschland sind heute auf die Grundsicherung angewiesen und leben damit in relativer Armut. Die meisten von ihnen kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Im Gegensatz zu den Spätaussiedler:innen werden ihre dortigen Berufsjahre in Deutschland nicht anerkannt.

Im Frankfurter »Treffpunkt« kommen jeden Mittwoch viele Überlebende der Shoah und ihre Familien zusammen. Es ist ein sicherer Raum für sie, der neben Kaffee und Kuchen, Kursen, Vorträgen und Musik auch niedrigschwellige Beratungsangebote bereithält. Insgesamt betreue die Einrichtung 170 Überlebende in der Stadt, so die Leiterin des »Treffpunkts«, Esther Petri-Adiel, im Gespräch mit der Jungle World. Gegründet wurde er von der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) mit Unterstützung der Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference) bereits 2002 als Pilotprojekt.

Menschen mit über 20 verschie­denen Muttersprachen nutzen die täglichen Angebote, die Sozial­ar­bei­te­r:in­nen, Psychoanalytiker:innen und Ehrenamtliche vor Ort und bei Hausbesuchen bieten. »Wir kommen aber auch zusammen«, so Petri-Adiel, »weil wir das Leben und Überleben so schätzen. Das ist ganz wichtig.«

Mittlerweile gibt es über 30 ähnliche Treffpunkte in ganz Deutschland. Für viele sind sie ein zweites Zuhause, aber auch eine wichtige Unterstützung in bürokratischen Angelegenheiten. Denn tatsächlich sind viele der Shoah-Über­lebenden in Deutschland darauf angewiesen, Grundsicherung im Alter zu beantragen. Sie leben in relativer Armut. Um ihren Anspruch auf Grundsicherung zu erhalten, müssen sie regelmäßig Kontoauszüge vorlegen und sich ­offiziell abmelden, sobald sie wegfahren wollen.

»Die meisten Überlebenden sind in einem Lebensabschnitt, in dem ihr Bedarf an Zuwendung und Unterstützungsleistungen steigt.« Gideon Taylor, Präsident der Claims Conference

Die größte Gruppe unter den in Deutschland lebenden Überlebenden der Shoah machen die in den neun­ziger Jahren als Kontingentflüchtlinge aus den ehemaligen Sowjetrepubliken immigrierten Jüdinnen und Juden aus. Nach Angaben der ZWST erzielten 2022 93 Prozent der jüdischen Zu­wan­de­­rer:in­nen kein ausreichendes Versorgungsniveau, um im Alter ohne den Bezug von Grundsicherung auszukommen. Das liegt vor allem daran, dass in Deutschland ihre Ausbildungen und Berufsjahre nicht anerkannt werden. Ihre Arbeitszeit in der Sowjetunion wird hierzulande bei der Berechnung der Rentenansprüche nicht berücksichtigt.

Der Leiter des Berliner Büros der ZWST, Günter Jek, betont im Gespräch mit der Jungle World die besondere ­Situation der Immigrant:innen: »Die meisten verfügten über akademische Titel, die jedoch in Deutschland nicht anerkannt wurden – das Gesetz zur Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen trat erst 2012 in Kraft«, also zu einem Zeitpunkt, als die Shoah-Überlebenden bereits im Rentenalter waren. »Sie waren zudem älter als andere Einwanderer:innen und deshalb selbst nach Umschulungen kaum konkurrenzfähig.« Diese Umstände führten für viele von ihnen zu Langzeitarbeitslosigkeit oder Arbeit im Niedriglohnsektor und folglich in die Altersarmut.

Seit Jahren fordern Stellen wie die ZWST eine Gleichstellung der jüdischen Zuwanderer:innen mit den Spät­aus­sied­le­r:in­nen. Denn trotz der ähnlichen Migrationsgeschichte verfügen Spät­aus­sied­le­r:in­nen nach dem Fremdrentengesetz über besondere Rentenansprüche, als hätten sie ihr Versicherungsleben in Deutschland verbracht. Eine Anpassung beider Systeme hat jedoch trotz der erbitterten politischen Kämpfe der jüdischen Wohlfahrt bisher keine Bun­des­regierung angestrebt. Stattdessen können Überlebende derzeit noch Anträge auf Härtefonds-Einmalzahlungen stellen. Die Bundesregierung bleibt sich damit der Tradition treu, sich mit sporadischen Zahlungen dem eigentlichen Problem zu entziehen und systematische Reformen zu verweigern. Es scheint, als wolle die Regierung damit ihre Verantwortung aussitzen, bis sie sich biologisch erledigt hat. Bisher haben nach Angaben der ZWST 52.000 jüdische Kontingentflüchtlinge einen solchen Antrag gestellt.

Wie prekär die Lage von Shoah-Überlebenden insbesondere aus der ehemaligen Sowjetunion ist, zeigen neue Erkenntnisse der Claims Conference. Vor dem diesjährigen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar veröffentlichte die Claims Conference die erste demographische Studie, die die Situation der derzeit circa 245.000 Überlebenden und deren Bedarfe beleuchtet. Die Studie müsse als Warnung verstanden werden, so Gideon Taylor, der Präsident der Claims Conference: »Die meisten Überlebenden sind in einem Lebensabschnitt, in dem ihr Bedarf an Zuwendung und Unterstützungsleistungen steigt. Jetzt brauchen sie uns am meisten.« Aus der Studie geht hervor, dass etwa 40 Prozent der Überlebenden derzeit monatliche Zahlungen von der Claims Conference erhalten, andere erhalten Einmalzahlungen oder Pflege- und sonstige Unterstützungsleistungen.

Die Claims Conference gründete sich bereits 1951. Als Zusammenschluss von 23 jüdischen Organisationen vertritt sie bis heute die Entschädigungsansprüche von Shoah-Überlebenden gegenüber dem deutschen Staat und zahlt ­ihnen Leistungen aus. Allein 2023 konnte die Claims Conference nach eigenen Angaben insgesamt 560 Millionen Dollar an insgesamt 200.000 Über­lebende in 83 Ländern auszahlen und 750 Millionen Dollar an soziale Einrichtungen vergeben, die Unterstützungsleistungen für Shoah-Überlebende anbieten.

Die fehlende Anerkennung der besonderen Situation der Überlebenden und ihrer Angehörigen spiegelt sich auch im Vorgehen der Deutschen Rentenversicherung wider. Erst kürzlich forderte diese einem Bericht der Welt zufolge von den Angehörigen der Shoah-­Überlebenden Miriam Leyer eine Rückzahlung. Der Grund: Leyer war im Januar 2022 verstorben, die Rentenversicherung hatte jedoch über ihren Tod hinaus noch für Februar die Ghettorente in Höhe von 107,26 Euro überwiesen.

Erst seit 1997 können Überlebende der Shoah, die während ihrer Inhaftierung in einem Ghetto gegen Entgelt gearbeitet haben, eine deutsche Sozialversicherungsrente erhalten. Diese habe die Versicherung mit einem bürokratischen Standardschreiben von den Angehörigen Leyers in Israel zurückgefordert. Um einen Einzelfall handele es sich bei diesem Vorgehen offenbar nicht. Mittlerweile hat die Bundesregierung jenes Rückforderungsanschreiben, das die Angehörigen in derartigen Fällen erhalten, überarbeiten lassen und es um ein optionales Kondolenzschreiben ergänzt. Verzichten möchte man jedoch nicht auf die Rückzahlungsforderungen.

Ganz ohne bürokratische Prozesse und Formulare möchte ein christlicher Verein aus Sachsen Shoah-Überlebenden helfen. Aus der Idee des Vereines Sächsischer Israelfreunde, Bildungsreisen nach Israel zu organisieren, entstand ein Projekt praktischer Unterstützung. »Als wir zum ersten Mal in Kontakt mit Shoah-Überlebenden in Israel kamen und den Zustand ihrer Wohnungen sahen, war uns klar, dass wir hier umgehend anpacken wollen«, ­berichtet Wilfried Gotter, Geschäftsführer des Vereins, der Jungle World.

Seit mittlerweile über 20 Jahren vermittelt der Verein ehrenamtlich arbeitende Handwerker nach Israel, die dort Wohnungen von Shoah-Überlebenden restaurieren und renovieren. Anfangs, 2004, boten acht Handwerker ihre ­Arbeiten an. Inzwischen laufen die Reisen deutlich professioneller ab als ­damals. Etwa 160 Helfer flögen jährlich nach Tel Aviv, die dann im gesamten Land im Einsatz seien, so Gotter.

Im »Treffpunkt« in Frankfurt sind die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine und des Hamas-Massakers am 7. Oktober des vergangenen Jahrs deutlich zu spüren.

Für die Arbeit an Ort und Stelle gebe es einen festen Ablauf: Vereinsmitglieder in Israel fotografieren die Schäden in den Wohnungen, so dass die Bedarfe genau abgeschätzt werden könnten. Anschließend werden in Deutschland Teams gebildet, die dann gemeinsam für zwei Wochen nach Israel reisen. Die Kosten für die Reisen trügen die Handwerker selbst, das Baumaterial werde aus Spenden finanziert. Auch am Bau von zwei Kindergärten in Sderot sei der Verein beteiligt gewesen. Die Stadt liegt im Süden Israels unweit des Gaza-Streifens. Während des noch andauernden Kriegs seien beide Kindergärten durch Raketenschläge erheblich beschädigt worden. »Der Wiederaufbau ist noch für 2024 in Planung«, berichtet Gotter.

Die Krisen der vergangenen drei Jahre haben bei den Überlebenden Spuren hinterlassen: Erst blieben wegen der Covid-19-Pandemie regelmäßige soziale Zusammenkünfte aus, dann folgte der russische Großangriff auf die Ukraine. Ilya Daboosh, der Leiter des ZWST-­Sozialreferats, berichtet der Jungle World, dass die ZWST und die Claims Conference rund 100 Überlebende der Shoah aus der Ukraine nach Deutschland ­geholt habe.

Eine Unterbringung aller Evakuierten in jüdischen Elternheimen sei nicht möglich gewesen, weshalb viele in anderen Heimen untergebracht worden seien. Einige von ihnen lebten mittlerweile mit ihren Familien in eigenen Wohnungen, andere seien in die Ukraine zurückgekehrt. »Ausgerechnet nach Deutschland zu kommen, war für viele von ihnen eine belastende Erfahrung«, so Daboosh.

Im »Treffpunkt« in Frankfurt sind die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine und des Hamas-Massakers am 7. Oktober des vergangenen Jahrs deutlich zu spüren. Das bemerkt auch Esther Petri-Adiel: »Beides betrifft die Menschen ganz direkt. Viele haben Familie in der Ukraine und in Israel. Sie machen sich große Sorgen. Wir hätten uns gewünscht, sie hätten so etwas nicht noch einmal erleben müssen«.