Vergraben in Trauer: Im Film »All of Us Strangers« begegnet Adam seinen verstorbenen Eltern – und bandelt mit seinem Nachbarn Harry an

Entwaffnende Melancholie

Im Film »All of Us Strangers« trifft der einsame Adam auf seine längst verstorbenen Eltern, außerdem macht ihm sein Nachbar Harry Avancen. Der britische Regisseur Andrew Haigh erzählt eine ungewöhnliche Geschichte über die Liebe und die Kraft der Erinnerung.

Andrew Haighs Drama »All of Us Strangers« findet in einem bedrückenden Bild für die urbane Vereinzelung seinen Ausgangspunkt. In einem neuen Wohnhochhaus irgendwo in London haben erst zwei Bewohner ihre jeweiligen Wohnungen bezogen – Adam (Andrew Scott) und Harry (Paul Mescal), beide sind schwul und allein. Adam ist Drehbuchautor und arbeitet an einem Manuskript, in dem er sich mit dem frühen Verlust seiner Eltern durch einen Autounfall – »Nicht gerade der originellste Tod« – auseinandersetzen will.

Eines Abends steht der jüngere Harry betrunken vor seiner Wohnungstür, um ihm Avancen zu machen. Wenn er dabei die groteske Wohnsituation der beiden anspricht – die Verlassenheit des Gebäudes, die Stille durch die schalldichten Fenster, das Enthobensein über der Stadt –, spricht er auch in Metaphern für das große Thema des Films, den Zusammenhang von Homosexualität und innerer Isolation. Letzterer folgend verschließt Adam sich den Annäherungsversuchen zunächst – er ist zu vergraben in die Beschäftigung mit seiner Trauer und seiner Vergangenheit.

Harry (Paul Mescal) ist Adams Nachbar – und an ihm interessiert

Am Anbandeln. Harry (Paul Mescal) ist Adams Nachbar – und an ihm interessiert

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Photo by Chris Harris. Courtesy of Searchlight Pictures. © 2023 20th Century Studios

Diese wird im Laufe des Films auf geradezu mystische Weise wieder ­lebendig. Für die Recherche fährt Adam zu seinem Elternhaus, wo er seine lebenden Eltern antrifft. Sie sind noch in dem Alter, in dem sie verunglückt sind, etwa im selben Alter wie der gegenwärtige Adam also, und zeigen sich erfreut, aber nur mäßig überrascht über die Rückkehr des verlorenen Sohns. Es ist eine große Stärke von »All of Us Strangers«, dass diese unmögliche Wiederbegegnung filmisch als Selbstverständlichkeit vorgespielt wird: Es gibt keine Erklärung und weder Adam noch seine Eltern suchen nach einer.

Es sind die klugen und ganz und gar unzeitgemäßen Beobachtungen, die »All of Us Strangers« zu einem wahren Juwel machen.

Die Deutung obliegt allein dem Zuschauer, der darin eine psychotische Episode in Adams Trauerprozess, Auswirkungen von Substanzkonsum oder schlicht ein phantastisches Element der Erzählung ausmachen kann. Er kann sich auch einfach der melancholischen Schönheit dieser sonst in die Welt der Träume, des Sehnens und der Phantasie verbannten Möglichkeit hingeben, den geliebten Verstorbenen noch einmal zu begegnen. Mit den Mitteln des Kinos entfaltet »All of Us Strangers« so ein kraftvolles Bild für die in der Fähigkeit zum Erinnern angelegte Subversion des unumkehrbaren Laufs der Dinge.

Immer wieder sucht Adam sein ­Elternhaus auf. Dieses wird zu einem Ort der Erinnerung, in dem der erwachsene Sohn mit seinen jungen Eltern über all das ins Gespräch kommen kann, was zu Lebzeiten unaus­gesprochen blieb – Adams traumatische Gefühle von Angst und Isolation, seine innere Fremdheit in der Familie und seine Homosexualität.

Die Mutter, wunderbar gespielt von Claire Foy, ist in Bezug auf Letzteres besorgt und denkt an Aids, Stigmatisierung, Vereinsamung. Wenn Adam dem entgegenhält, das habe sich alles verändert, scheint er sich insbesondere in Bezug auf die Einsamkeit selbst nicht ganz zu glauben – seine Stimme wird brüchig, sein Blick geht ins Leere. »Alles ist jetzt anders«, versichert er gleich zweimal, wohl mehr sich selbst als seiner Mutter.

Auch wird deutlich, wie prägend die Angst vor Aids für Adam in jüngeren Jahren war. Was zunächst wie eine homophobe Reaktion der Mutter anmutet, erweist sich so als Sorge um die inneren und äußeren Konflikte ihres Sohns und lässt die zeitgenössische liberale Toleranz bei­nahe als Indifferenz erscheinen. Sie bietet Adam zwar ein Leben frei von manifesten Aggressionen in der Großstadt – doch sein London ist leer, die Freunde haben Familien gegründet und sind in die Vorstädte gezogen.

Versöhnung erfährt Adam mit seinem Vater (Jamie Bell). Anders als die Mutter ist er wenig überrascht von Adams Coming-out; er hat das Leiden des schwulen Sohns an seiner aggressiven Umwelt zwar ignoriert, aber sehr wohl mitbekommen. Unter ­Tränen entschuldigt er sich, und in seinen Armen wird Adam noch einmal zu dem kleinen Jungen, der er damals war. So scheint sich nachträglich in der vergebenden Erinnerung so etwas wie Heilung und Traumabewältigung abzuzeichnen. Zugleich wird immer unklarer, ob Adam mit seinen Besuchen im Elternhaus näher zu sich selbst findet oder sich in seiner schmerzvollen Vergangenheit mehr und mehr verliert – oder ob das gar ein und dasselbe ist.

Ganz nebenbei wird eine Wahrheit über die queere Verdrängung des homosexuellen Begehrens ausgesprochen: »Queer« klingt freundlicher, als habe man es um das Schwanzlutschen bereinigt.

Auf ein Ende seiner Einsamkeit kann Adam dennoch hoffen, als er schließlich doch die Nähe zu seinem Nachbarn Harry sucht. Die beiden ­beginnen, einander in ihren Wohnungen zu besuchen, rauchen zusammen Gras, tauschen sich über ihre Erfahrungen als schwule Söhne aus. Wenn Harry dabei erzählt, er habe sich in seiner Familie immer fremd gefühlt, sein Coming-out habe diese Fremdheit gewissermaßen nur bekräftigt, drückt sich darin eine tiefe Wahrheit über eine spezifisch schwule Einsamkeit aus.

Diese Einsamkeit ist eine, die Adam und Harry teilen und die ihnen so schnell eine große Nähe ermöglicht – es bedarf nur einer vorsichtigen Nachfrage bezüglich des sexuellen Begehrens des anderen und einer kurzen Plauderei, bis sie miteinander körperlich intim werden. Bei diesem kleinen Gespräch über die Begriffe »schwul« und »queer« sowie die Generationen, die sie repräsentieren, spricht der jüngere Harry ganz nebenbei eine Wahrheit über die queere Verdrängung des homosexuellen Begehrens aus: »Queer« klinge freundlicher, als habe man es um das Schwanzlutschen bereinigt.

Harry und Adam kommen sich näher

Schwer erträgliche Schönheit. Harry und Adam kommen sich näher

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Photo Courtesy of Searchlight Pictures. © 2023 Searchlight Pictures

Es sind diese klugen und ganz und gar unzeitgemäßen Beobachtungen, die »All of Us Strangers« zu einem wahren Juwel machen. Scharfsinnig gezeichnet sind auch die Verschiebungen in der ödipalen Konstellation, etwa wenn der Vater dem Zuschauer bei seinem ersten Auftritt zunächst als potentieller Liebhaber Adams erscheint oder die Mutter sichtlich irritiert ihr Begehren abschütteln muss, als sie den gleichaltrigen Sohn unbekleidet sieht.

Die Direktheit, mit der die im innersten eingeschlossenen Nöte von Adam und Harry nicht nur zur Sprache gebracht, sondern filmisch mit einer entwaffnenden, traumartigen Melancholie erfahrbar gemacht werden, verleiht dem Film nicht nur eine traurige Tiefe, sondern auch eine schwer erträgliche Schönheit.

Zu dieser trägt neben der intimen Kameraarbeit Jamie D. Ramsays, die mit zahlreichen Spiegelungen und verträumten Lichtspielen die richtigen Bilder für die Erzählung findet, auch die Musik bei. Große Teile des Films sind unterlegt mit einem atmosphärischen Score von Emilie Levienaise-Farrouch, zeitweise gebrochen von Klassikern wie »Always on My Mind« von den Pet Shop Boys oder Frankie Goes to Hollywoods »The Power of Love«, die sich beide auf überwältigende Weise mit der Erzählung und ihren Bildern verbinden.

Auch die Sexszenen sind gleichermaßen explizit und zärtlich, der Gegensatz von Zartem und Wuchtigem scheint wie aufgehoben.

Nicht zuletzt wird der Film getragen von einem exzellenten Ensemble. Andrew Scott verkörpert den leidenden Adam mit verletzlicher Direktheit. Paul Mescal als Harry spielt nach der mehr als verdienten Oscar-Nominierung für seine darstellerische Leistung in »Aftersun« (2022) erneut meisterhaft die Rolle eines gerade in seiner Abgründigkeit zutiefst liebenswerten, depressiven jungen Mannes.

Auch die Sexszenen sind gleichermaßen explizit und zärtlich – in »All of Us Strangers« scheint der Gegensatz von Zartem und Wuchtigem wie aufgehoben. Das gilt auch und gerade für eine horrorfilmartige Sequenz des Films, in der Adam im Drogenrausch durch die Phantasiebilder eines möglichen Glücks hindurch in drastische Visionen vergangenen Schmerzes verfällt. Die Szene liefert nebenbei die lange überfällige filmische Referenz an die Rätsel des Ketaminrauschs.

Beim Erwachen aus diesem Rausch eröffnet Adam Harry, nach dem Tod seiner Eltern seien seine Trauer, die Probleme mit seiner Homosexualität und das unbestimmte Gefühl, dass es keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft gebe, miteinander verschmolzen und hielten ihn seither umklammert. Wie Theodor W. Adorno einmal Sigmund Freud attestierte, dieser sei »paradoxerweise in den innersten psychologischen Zellen auf Gesellschaft­liches gestoßen«, offenbart sich in Adams Depression auf subtile Weise auch die allgemeine Hoffnungs­losigkeit einer krisenhaften Gegenwart. »All of Us Strangers« stellt dieser keine progressive Zukunftsgläubigkeit entgegen, sondern die zarte Nachträglichkeit der Erinnerung.

All of Us Strangers (UK 2023). Buch und ­Regie: Andrew Haigh. Darsteller: Andrew Scott, Paul Mescal, Claire Foy, Jamie Bell