An der FU Berlin wurde Benny Morris’ Buch über den arabisch-israelischen Krieg 1948 vorgestellt

Ein paar Hundert Seiten Kontext

An der Freien Universität Berlin wurde die deutsche Übersetzung von Benny Morris’ »1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg« vorgestellt.
Raucherecke Von

In Benny Morris’ Buch über Israels Staatsgründungskrieg erfährt man, dass »die Juden viel mehr Gräueltaten als die Araber verübten und viel mehr Zivilisten töteten«. Man kann dort lesen, dass die »palästinensische arabische Gesellschaft zerschlagen« wurde, »zusammenbrach« und von den jüdischen Streitkräften »gebrochen« wurde. Man erfährt von den Hunderttausenden Arabern, die während des Krieges flohen oder vertrieben wurden und dass »Israel fast sofort – im Sommer 1948 – die Entscheidung traf, sie nicht zurückkehren zu lassen«.

Man könnte meinen, so ein Buch wäre vielleicht die Bibel des israelfeindlichen Protests, der seit Wochen regelmäßig an der Freien Universität Berlin (FU) stattfindet. Doch als am Freitag vergangener Woche die neue deutsche Übersetzung von Benny Morris Buch »1948 – Der erste arabisch-israelische Krieg« in der FU vorgestellt wurde, geschah dies als Teil der »Aktionswoche gegen Antisemitismus«. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Studentengruppe für jüdische Themen, Chaverim.

Herausgeber der deutschen Übersetzung war die Gesellschaft für kritische Bildung. Deren Vertreter Andreas Stahl sagte, Morris löse tatsächlich ein, was von antizionistischer Seite oft gefordert werde: Er liefere »Kontext«.

Die arabische Seite hatte den Krieg begonnen, weil sie den UN-Teilungsplan nicht akzeptieren wollte, der ­einen palästinensischen Staat neben einem jü­dischen vorsah.

Im Fall von »1948« handelt es sich um den Kontext der Ereignisse, die von Palästinensern als Nakba, als »Katastrophe«, bezeichnet werden. Und weil er sich dem Kontext widmet, kommt Morris zu dem Urteil, dass die Zahl der massakrierten jüdischen Zivilisten nur deshalb relativ klein gewesen sei, weil die arabische Seite militärisch erfolglos war. Die Vertreibung der Juden, schreibt er, sei als Ziel »im Mainstream der Palästinensischen Nationalbewegung von Anfang an« verankert gewesen, während eine solche Vertreibungspolitik im Zionismus nur ein »kleines und sekundäres Element« gebildet habe.

In Morris’ Buch lässt sich nachlesen, wie sich damals einige Hunderttausend staatenlose Juden – viele von ihnen waren gerade erst eingewanderte Holocaust-Überlebende – gegen die Invasion mehrerer arabischer Staaten zur Wehr setzten. Sie waren dabei auf sich allein gestellt, erhielten keine militärische Unterstützung durch andere Staaten.

Die arabische Seite hatte den Krieg begonnen, weil sie den UN-Teilungsplan nicht akzeptieren wollte, der ­einen palästinensischen Staat neben einem jü­dischen vorsah. Eine religiös grundierte Kriegsbegeisterung erfasste die gesamte arabische Welt. Die Juden in Palästina verstanden den Krieg aus guten Gründen als Kampf ums nackte Überleben – die »zionistischen Führer hatten eine tiefe und echte Furcht vor einer Wiederholung des Holocaust«, schreibt Morris.

Die Flucht und Vertreibung der arabischen Bevölkerung habe sich erst aus der Dynamik des Krieges entwickelt und gehe nicht auf einen zionistischen Plan zurück: Das ist Morris’ zentrales Urteil, das auf mehreren Hundert Seiten begründet wird. Israelische Verbrechen werden dabei nicht beschönigt. Die Lektüre könne auch »desillusionierend« sein, sagte Nora Pester vom Verlag Hentrich & Hentrich, wo das Buch erschien.

Es gebe in der Antisemitismusforschung wenig Verlangen, sich mit dieser »anstrengenden und detaillierten« Geschichte auseinanderzusetzen, sagte Stahl. Lieber beschäftige man sich mit der Ideologie des Antisemitismus und deren Wirkungsweise. Doch wenn es um Israel geht, müsse man »eben irgendwann über historische Fakten sprechen«.

»1948« erschien bereits vor 15 Jahren, es stieß im englischsprachigen Raum auf enorme Resonanz und gilt als historisches Standardwerk.

Das leuchtet ein: Wer begründen will, warum eine Behauptung über Israel eine Dämonisierung darstellt, muss die historische Wahrheit kennen. Und wer allgemein für eine prozionistische Haltung bei Linken eintreten will, sollte eine geschichtswissenschaftlich seriöse Auffassung des Konfliktes haben, um nicht gleich auf den Versuch zu verzichten, auch Palästinenser und deren Unterstützer überzeugen zu können.

»1948« erschien bereits vor 15 Jahren, es stieß im englischsprachigen Raum auf enorme Resonanz und gilt als historisches Standardwerk. Warum in Deutschland bisher keines von Morris’ Büchern übersetzt worden ist, sei eine gute Frage, die er nicht recht beantworten könne, meint Andreas Stahl. Die Gesellschaft für kritische Bildung selbst habe das Vorhaben nur finanzieren können, weil die beiden Übersetzer »quasi umsonst« gearbeitet hätten.

Eine Absicht bei der deutschen Übersetzung von »1948« war wohl, den Büchern des antizionistischen israelischen Historikers Ilan Pappé entgegenzuwirken. Einige liegen schon seit langem auf Deutsch vor. Sein »Die ethnische Säuberung Palästinas« hat die Sichtweise hiesiger »Israelkritiker« wohl maßgeblich geprägt. Pappé lasse »sämtliche Komplexitäten unter den Tisch fallen«, sagt Morris in einem Interview, das der deutschen Ausgabe seines Buches vorangestellt ist, seine Bücher strotzten »vor Lügen, Verzerrungen und absichtsvollen Fehlzitationen«.

Benny Morris’ politische Positionen lassen sich schwer klar zuordnen. Die israelische Besatzung der Westbank sei »unmoralisch und schlecht«, sagte er vergangene Woche der US-amerikanischen jüdischen Zeitung Algemeiner. Doch er glaube nicht, dass es auf palästinensischer Seite eine Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung gibt. »Sie wollen ganz Palästina. Das ist der Kern des Problems.«
 

Buchcover

Benny Morris: 1948. Der erste arabisch-israelische Krieg. Aus dem Englischen von Johannes Bruns und Peter Kathmann. Hentrich & Hentrich, Leipzig/Berlin 2023, 646 Seiten, 32 Euro