Charles King erzählt die Geschichte der Schwarzmeerstadt

Die kosmopolitische Stadt: Odessa

Buchkritik Von

»Leben und Tod in einer Stadt der Träume« lautet der dramatische Untertitel der kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen umfangreichen Monographie »Odessa« des US-amerikanischen Professors für internationale Politik, Charles King. Mag diese Wortwahl zunächst etwas überzogen wirken, wird man bei der Lektüre schnell eines Besseren belehrt.

Die 1794 im Auftrag der Zarin Katharina II. für imperiale Zwecke aus dem Boden gestampfte und für ihren kosmopolitischen Charakter bekannte Stadt hat nämlich auch zahlreiche düstere Kapitel erlebt: Pest, überbordende Kriminalität, Pogrome, die Ausrottung beinahe aller Jüdinnen und Juden durch die rumänische Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkriegs – und das anschließende Schweigen über Letzteres in der So­wjetzeit, das nicht selten in einen latenten Antisemitismus überging.

Das Buch ist weitaus mehr als »nur« eine Stadtgeschichte Odessas von der Gründung bis zur Orangenen Revolution 2004.

King vermag es, virtuos Mikro- und Makrogeschichte, Politik, Kultur und biographische Anekdoten über Schlüsselcharaktere allgemeinverständlich, mit Liebe zum Detail und vor allem fesselnd miteinander zu verbinden. Das Resultat der aufwendigen Recherche ist weitaus mehr als »nur« eine Stadtgeschichte Odessas von der Gründung bis zur Orangenen Revolution 2004.

Die Übersetzung Mark Feldons ist gelungen, einzig das Lektorat hätte die Transkription aus dem Russischen etwas mehr vereinheitlichen können. Da das Buch in der englischen Originalfassung bereits 2011, die deutschsprachige Ausgabe aber zwölf Jahre später mitten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erschienen ist, vermisst man allerdings ein kurzes einordnendes Vor- oder Nachwort. Das Buch sei gleichwohl allen empfohlen, die sich für die Vergangenheit der Region in ihrer Komplexität begeistern lassen wollen.


Buchcover

Charles King: Odessa. Leben und Tod in einer Stadt der Träume. Aus dem Englischen von Mark Feldon. Edition Tiamat, Berlin 2023. 392 Seiten, 32 Euro