Jetzt mal bloß keine Genitalpanik!
Der Ursprung der Welt ist in Metz«, so wirbt das Centre Pompidou Metz für eine Ausstellung zu Jacques Lacan, die noch bis Ende Mai in dem Museumsneubau unweit des dortigen Bahnhofs zu sehen ist. Die hoch auf der kühnen Dachkonstruktion flatternde tricolore zeigt: Das Museum will ein modernes Monument sein.
Kaum bescheidener ist der Titel der Schau: »Lacan, die Ausstellung: Wenn Kunst auf Psychoanalyse trifft«. Die Gedankenwelt des französischen Psychoanalytikers soll in dieser großen Hommage bebildert, seine Thesen und Theorien sollen anschaulich gemacht werden.
In einem »Überblick über die vom Psychoanalytiker geprägten Begriffe« soll sich »Lacans Lektion in Bezug auf die Kunst« abzeichnen: Werke nicht als zu interpretierende Objekte zu betrachten, sondern als »Kräfte, mit denen man die Welt neu zu sehen und neu zu denken vermag«, heißt es einleitend. Sein Denken halle bis heute nach, denn »unter Berufung auf die Lehre von Sigmund Freud eröffnet Lacan ein innovatives und subversives Feld, das sowohl im Kern unserer Modernität als auch unserer Aktualität angesiedelt ist«. Eine ganze Reihe fragwürdiger Begriffe wird hier aufgerufen, um die heutige Relevanz des strukturalistischen Großmeisters zu bezeugen.
Gegliedert werden die Bilder und Skulpturen durch Lacans »große konzeptuelle Artikulationen«, gemeint sind Begriffe und Wendungen, die auf Texttafeln kurz erläutert werden: »Spiegelstadium«, »Lalangue«, »Name des Vaters«, »Objekt a«, »Frau«, »Es gibt kein Verhältnis der Geschlechter« und »Topologien«.
Große Namen sind in der Ausstellung versammelt; an prominenter Stelle hängt Caravaggios »Narziss«, dazu Bilder von Picasso, Giacometti, Dalí, Magritte – das berühmte Auge vor Wolkenhimmel blickt bereits von der Außenfassade des Centre Pompidou herab. Gezeigt wird auch Gustave Courbets »Der Ursprung der Welt«, worauf die Werbekampagne der Ausstellung abhebt.
Gegliedert werden die Bilder und Skulpturen durch Lacans »große konzeptuelle Artikulationen«, gemeint sind Begriffe und Wendungen, die auf Texttafeln kurz erläutert werden: »Spiegelstadium«, »Lalangue«, »Name des Vaters«, »Objekt a«, »Frau«, »Es gibt kein Verhältnis der Geschlechter« und »Topologien«. Eröffnet wird die Schau mit einem Schwarzweißvideo, in dem Lacan am Schreibtisch sitzend die Welt erklärt. Anschließend werden seine Biographie und seine Werke angerissen. Verwiesen wird beispielsweise auf den Gründungstext seiner Lehre, »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse« (1953), in dem er eine »Rückkehr zu Freud« einleiten will.
Der erste Bildraum ist seiner 1936 erstmals entwickelten Theorie des »Spiegelstadiums« gewidmet. Er hängt wenig überraschend voller Spiegel, in denen die Besucher ihr Abbild verzerrt bewundern können, daneben Caravaggios bereits erwähntes Ölgemälde, auf dem Narziss sein Antlitz selbstverliebt im Wasser betrachtet.
Die berühmte Szene in Martin Scorseses Film »Taxi Driver«, in der Robert De Niro als Travis mit seinem Spiegelbild spricht (»You talkin’ to me?«), ist als Bildschleife zu sehen. Ebenso die Szene aus Michael Powells »Peeping Tom« (1960), in der ein Serienmörder die ihn faszinierende Todesangst der weiblichen Opfer filmt, woran der Zuschauer teilhat, indem er durch den Blick des Voyeurs sowohl Akteur als auch (empathischer) Betrachter ist. Der feministischen Filmtheorie zufolge ein Beispiel des male gaze, das die Filmemacherin Laura Mulvey 1975 in ihrem Essay »Visuelles Vergnügen und Erzählkino« aufgegriffen hat.
Die gezeigten Werke haben zumeist keine konkrete Verbindung zu Lacan oder seiner Theorie, sondern öffnen eher einen Assoziationsraum. Dass solch vage Bezüge ausreichen, um seine »grundlegende Theorie« plausibel zu machen, kann bezweifelt werden. Abgehoben wird darauf, dass die Theorie »aufschlussreich für die Frage der Identität (sei), die sich in einer Entfremdung konstituiere«.
An prominenter Stelle hängt Courbets »Der Ursprung der Welt«. Das berühmte Aktgemälde einer behaarten Vulva, das fast schon fotorealistisch anmutet und Mitte des 19. Jahrhunderts für einen Skandal sorgte, wurde 1955 von Lacan und seiner Ehefrau Sylvia Bataille erworben.
Schlagwörter wie »chute« (Fall), »phallus« oder »merde« werden mit plakativen Erklärungen und Zitaten Lacans versehen. »Was in der Malerei zutage tritt, wird in seiner Authentizität bei uns Menschenwesen durch den Umstand eingeschränkt, dass wir unsere Farben da suchen müssen, wo wir sie haben: in der Scheiße«, lautet die Erklärung zum Schlagwort »merde«. Daneben hängt Carol Ramas Bildnis einer kackenden Frau mit dem Titel »Marta La Cagona« (1940). Cindy Shermans Plastik-Sexpuppe (»Untitled #261 from the Sex Pictures Series«, 1992) steht neben Paul McCarthys Skulptur eines Hasen, dessen Schwanz sich wie ein Gartenschlauch am Boden kringelt (»Spaghetti Man«, 1993).
An prominenter Stelle hängt Courbets »Der Ursprung der Welt«. Das berühmte Aktgemälde einer behaarten Vulva, das fast schon fotorealistisch anmutet und Mitte des 19. Jahrhunderts für einen Skandal sorgte, wurde 1955 von Lacan und seiner Ehefrau Sylvia Bataille erworben. Man erfährt, dass Lacan bei dem Maler und Bildhauer André Masson eine Abdeckung in Form einer verschiebbaren, bemalten Holztafel in Auftrag gab, mit der sich das Gemälde verdecken ließ. Die Bedeutung des Bilds für Lacans Denken wird aber eher behauptet, als dass sich Erkenntnisse daraus ableiten ließen.
Auch eine Auseinandersetzung mit Lacans Vorstellungen von Männlichem und Weiblichem, wie sie sich an dieser Stelle nahezu aufdrängt, unterbleibt. Valie Exports Fotoserie »Aktionshose: Genitalpanik« ein paar Meter weiter dürfte zumindest zum Zeitpunkt ihrer Entstehung – 1969 – als Replik auf Courbet noch provokativ gewirkt haben. Mit einer im Schritt aufgeschnittenen Jeans samt Maschinenpistole im Arm präsentierte sich Export in einem Münchner Pornokino.
Ausführlich geht die Ausstellung auch auf Diego Velázquez’ Gemälde »Las Meninas« ein. Es ist eines der wenigen in der Ausstellung gezeigten Bilder, mit denen sich Lacan – im Rahmen seiner Vorlesungen des »Seminar XIII« im Mai 1966 – tatsächlich beschäftigt hat. Im »glänzenden Gewand« der jungen Margarita Teresa, eine zentrale Figur dieser Arbeit und das Lieblingsmodell des Malers, erkennt Lacan ein »geheimes Objekt« (»Objekt a«), nämlich eine Falte in ihrem Kleid, das ihr Genital andeute.
Bevor die Besucher:innen zur Korrespondenz Lacans mit Louis Althusser gelangen, können sie sich in Leandro Erlichs Installation »Die Praxis des Psychoanalytikers« (2005) in einer verspiegelten Scheibe selbst betrachten.
Unter dem Titel »Anatomie ist kein Schicksal« im letzten Drittel der Ausstellung, in dem es um die Diskurse der Frauenbefreiung und der sexuellen Orientierung geht, wird es dann aber vollends beliebig. »Jacqueline Lacan« liest man schließlich auf einem Button an der Wand. Damit wird das Lacan’sche Werk der »großen Erzählung« des Fortschritts und der individuellen Befreiung zugeschlagen – eine Zuordnung, die die Vorbehalte gegen postmodernes Denken bedient.
Lacan, die Ausstellung: Wenn Kunst auf Psychoanalyse trifft. Centre Pompidou, Metz. Bis 27. Mai
Ausstellungskatalog (auf Französisch) bei Editions Gallimard, 39 Euro